Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
Hemmung und Einschränkung ausgeübt wird, zu wahren Gewaltexzessen führt, denn er ist der Raum, in dem die zerstörerischsten Triebe der Persönlichkeit hervortreten.
Im Idealfall werden die Grenzen, innerhalb deren sich das Sexualleben entfaltet, so weit ausgedehnt, dass Männer und Frauen in Freiheit handeln und ihre geheimsten Wünsche ausleben können, ohne sich bedroht oder diskriminiert zu fühlen, im Rahmen bestimmterkultureller Formen, welche die private und intime Natur der Sexualität bewahren, so dass der Sex weder banalisiert noch animalisiert wird. Das ist Erotik. Mit ihren Ritualen, Fantasien, ihren Heimlichkeiten, der Liebe zur Form und zur Theatralik ist sie eine Hervorbringung höchster Kultur, ein Phänomen, wie es bei primitiveren Gesellschaften oder ungeschliffeneren Zeitgenossen unvorstellbar ist, denn sie verlangt ein verfeinertes Empfinden, eine kunstaffine Kultur und eine gewisse Neigung zur Überschreitung. Wobei man mit diesem Wort vorsichtig umgehen muss, denn in der Erotik bedeutet es nicht das Negieren der herrschenden moralischen oder religiösen Prinzipien, sondern ihre Anerkennung und ihre Ablehnung zugleich, beides gehört hier untrennbar zusammen. Indem die Handelnden in einem intimen Raum die Regel verletzen, diskret und im gegenseitigen Einverständnis, bringen sie etwas zur Aufführung, ein theatralisches Spiel, das ihre Lust im Gestus der Freiheit und Herausforderung noch steigert und zugleich gewährleistet, dass der Sex nichts von seinem Nimbus des Verhüllten und Vertraulichen verliert.
Ohne Achtung der Formen, dieses Rituals, das die Lust zugleich bereichert, verlängert und überhöht, wird der Geschlechtsakt wieder zu einer rein körperlichen Angelegenheit – ein Trieb der Natur im menschlichen Organismus, Mann und Frau als ihre passiven Instrumente –, ohne jedes Empfinden und ohne Gefühl. Genau das veranschaulicht uns, unbewusst und ohne Absicht, jene Billigliteratur, die gerne erotisch wäre, es aber nur zu den plattesten Ansätzen des Genres schafft, der Pornografie. Wo aber erotische Literatur pornografisch wird, sind die Gründe strikt literarische: die Vernachlässigung der Form. Das heißt, wenn ein Schriftsteller, ob aus Unachtsamkeit oder Ungeschick, beim Gebrauch der Sprache, bei der Konstruktion des Romans, dem Aufbau der Dialoge oder der Beschreibung einer Situation unfreiwillig alles enthüllt, was es an Obszönem und Abstoßendem in einer sexuellen Begegnung gibt, einer Paarung, die kein Gefühl kennt und keine Anmut – keine Inszenierung, kein Ritual – und nichts weiter ist als bloße Befriedigung des Fortpflanzungstriebs.
Miteinander zu schlafen ist in der westlichen Welt heute der Pornografie näher als der Erotik, und so paradox es klingt, aber es ist dies das perverse Ergebnis einer fehlgeleiteten Freiheit.
Die Selbstbefriedigungskurse, die künftig die jungen Menschen aus Extremadura und Andalusien als Teil des Curriculums absolvieren werden, erwecken den Anschein eines kühnen Schrittes im Kampf gegen sexuelle Heuchelei und Vorurteile. Tatsächlich aber werden dergleichen Initiativen, die das Geschlechtsleben entweihen und zu einer so gewöhnlichen und alltäglichen Übung machen sollen wie Essen, Schlafen und Arbeitengehen, eher zu einer vorzeitigen Desillusionierung der jüngeren Generationen führen. Das Ausleben der Sexualität wird alles Geheimnis, alle Leidenschaft, Fantasie und Kreativität verlieren und sich banalisieren bis zur reinen Gymnastik. Mit dem Ergebnis, dass die Jugendlichen ihr Vergnügen woanders suchen, wahrscheinlich im Alkohol, in Gewalt, in Drogen.
Wenn wir wollen, dass die körperliche Liebe dazu beiträgt, das Leben zu bereichern, sollten wir uns von Vorurteilen befreien, aber nicht von der Form und den Ritualen, die sie veredeln und zivilisieren; und statt sieins Licht zu zerren und auf der Straße auszustellen, sollten wir Diskretion üben und die Privatsphäre schützen, denn nur sie erlaubt es den Liebenden, Gott zu spielen und zu spüren, dass sie es tatsächlich sind in diesen tiefen und einzigartigen Augenblicken der Leidenschaft und des geteilten Begehrens.
Vorgeschichte
Prüfstein
Der Maler im Bordell
Jean-Jacques Lebel, Schriftsteller und Avantgardekünstler, der in den Sechzigern Happenings veranstaltete, fasste in dieser Zeit den Gedanken, das Theaterstück Le Désir attrapé par la queue (Wie man Wünsche beim Schwanz packt) »absolut treu« auf die Bühne zu bringen, ein bizarres, surreales
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