Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
Stück, das Picasso 1941 geschrieben hatte und in dem neben anderen Absonderlichkeiten eine weibliche Person, La Tarte (die Torte), zehn Minuten lang, in der Hocke über dem Souffleurkasten, Wasser lässt (wofür, erzählt Lebel, seine sich verflüssigende Schauspielerin literweise Tee und reichlich Kirschsaft trinken musste). Zur Vorbereitung dieses Projekts traf er sich Anfang 1966 mit dem Maler, und Picasso zeigte ihm eine ganze Reihe erotischer Skizzen und Bilder aus seiner Zeit in Barcelona, die noch nie öffentlich gezeigt worden waren. Lebel hatte gleich die Idee, eine Ausstellung zu organisieren und dort ohne jede Beschönigung oder Zensur zu zeigen, wie sehr Picassos Welt vom Sex beherrscht war. Verwirklicht wurde die Idee erst Jahrzehnte später, mit einer umfangreichen Ausstellung im Pariser Jeu de Paume, wo im Frühjahr 2001 dreihundertdreißig Werke zu sehen sind, viele davon zum ersten Mal. Danach reist die Ausstellung nach Montreal und Barcelona.
Die erste Frage, die sich der aufs Schönste erregte Betrachter nach seinem Rundgang vermutlich stellt, ist, warum es so lange gedauert hat, bis die Bilder gezeigt wurden. So viele Ausstellungen hat es gegeben über das Werk dieses Künstlers, dessen Einfluss in allen Epochen der modernen Kunst spürbar ist, aber noch nie eine zum Thema Sex. Die von Lebel und Gérard Régnier kuratierte Ausstellung führt anschaulich vor, wie besessen der Maler von dem Thema war und wie bemerkenswert ungezwungen und gewagt er sich, vor allem in seiner Jugend und im Alter, auf diesem Gebiet ausdrückte, in Zeichnungen, Skizzen, Objekten, Grafiken und Gemälden, die, wie ungleich ihr künstlerischer Wert auch sein mag, sein geheimstes Inneres enthüllen – seine erotischen Wünsche und Fantasien – und sein übriges Werk in ein anderes Licht stellen.
»Kunst und Sinnlichkeit sind dasselbe«, sagte Picasso einmal zu Jean Leymarie, und ein andermal bemerkte er: »Keusche Kunst gibt es nicht.« Ob das tatsächlich für alle Künstler gilt, mag dahinstehen, bei ihm jedenfalls war es so. Warum also trug Picasso selber dazu bei, diesen Aspekt seines Schaffens so lange zu verbergen? Aus ideologischen und kommerziellen Gründen, sagt Jean-Jacques Lebel in einem aufschlussreichen Gespräch mit Geneviève Beerette. Während seiner stalinistischen Phase, als er ein Stalinporträt zeichnete und das Bild Massaker in Korea entstand, hätte alles Erotische nur zu Konflikten mit der Kommunistischen Partei geführt, deren Mitglied Picasso war, und für sie galt allein die Ästhetik des sozialistischen Realismus, wo es keinen Platz gab für die »dekadente« Verherrlichung der sexuellen Lust. Später billigte er auf Anraten seiner Galeristen,diese Dimension seines Werkes zu verheimlichen, aus Angst, er könnte die reichen Sammler in den puritanischen USA verprellen.
Heute ist es endlich möglich, den Blick auf den ganzen Picasso zu richten, ein Universum mit so vielen Gestirnen, dass einem schwindlig wird. Wie konnte die Vorstellungskraft eines einzelnen Sterblichen einen solch ungeheuren, brodelnden Kosmos schaffen? Eine Antwort auf die Frage gibt es nicht, sie macht uns bei Picasso so sprachlos wie bei Rubens, Mozart oder Balzac. Sein Werk mit all den verschiedenen Phasen, Themen, Formen und Motiven ist ein Streifzug durch die Schulen und künstlerischen Bewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts, aus denen es sich speist und die es mit unverwechselbaren eigenen Akzenten bereichert. Später wirft er sich auf die Vergangenheit, holt sie in Porträts, Beschwörungen, Karikaturen und in stets neuen Lesarten zurück in die Gegenwart, zeigt, was es an Aktuellem und Frischem bei den alten Meistern zu entdecken gibt. Klar, Sex fehlte nie, in keiner der Perioden seines Wirkens, nicht einmal in den kubistischen Jahren. Manchmal zeigt er sich recht scheu, auf symbolische Art, über Anspielungen, doch meist bricht der Sex mit frecher Nacktheit und Derbheit herein, in Bildern, die die Konventionen der Erotik, das Verfeinerte und jene schamhaften Staffagen herauszufordern scheinen, mit denen die Kunst die körperliche Liebe traditionell abgebildet hat, um sie mit der geltenden Moral in Einklang zu bringen.
Der Sex, wie Picasso ihn in den meisten dieser Werke zeigt, vor allem in denen aus seinen Jugendjahren in Barcelona, ist ein elementarer, nicht sublimiert durchdie Rituale oder barocken Zeremonien einer Kultur, die den animalischen Trieb verhüllt, zivilisiert und zu einem Kunstwerk erhebt. Es ist
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