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Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Titel: Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Picasso zum Schluss weitermalte, fast bis zum letzten Atemzug.
    El País , Madrid, 1. April 2001

Prüfstein
Kalter Sex
    Der Legende nach schlief der junge Victor Hugo in der Hochzeitsnacht acht Mal mit seiner Frau, der sittsamen Adèle Foucher. Und als Folge dieses Rekords, den der ungestüme Autor von Die Elenden da aufstellte – nach eigenem Bekunden war er jungfräulich in die Ehe gegangen –, war Adèle für immer geimpft gegen dergleichen Bettaktivität. (Ihre gewundene Liaison mit dem hässlichen Sainte-Beuve hatte nichts mit Lust zu tun, sondern mit Erbitterung und Rache.)
    Der kluge Jean Rostand spottete über diese typisch Hugosche Spitzenleistung und führte die Heldentaten an, die andere Exemplare beim Geschlechtsverkehr vollbringen. Was sind schon die acht aufeinanderfolgenden Ergüsse des romantischen Dichters verglichen mit den vierzig Tagen und vierzig Nächten, in denen der Kröterich die Kröte begattet, ohne sich auch nur eine Atempause zu gönnen? Wie dem auch sei, dank einer versierten Französin, Madame Catherine Millet, haben Froschlurche, Karnickel, Nilpferde und was es sonst an formidablen Stechern im Tierreich gibt, in der mediokren menschlichen Spezies eine Rivalin gefunden, die es mit ihnen aufnehmen kann und sie, was die Beischlaffrequenz anbetrifft, sogar in den Schatten stellt.
    Wer ist Catherine Millet? Eine angesehene Kunstkritikerin, die, mittlerweile jenseits der fünfzig, die Redaktion von art press in Paris leitet und Bücher geschrieben hat über Konzeptkunst, den Maler Yves Klein, den Produktdesigner Roger Tallon, über avantgardistische undzeitgenössische Kunst. 1989 war sie Kuratorin der französischen Abteilung auf der Biennale von São Paulo und 1995 des französischen Pavillons auf der Biennale von Venedig. Ihr Ruhm hingegen ist jüngeren Datums. Er gründet sich auf einen autobiografischen Bericht, La vie sexuelle de Catherine M. (Das sexuelle Leben der Catherine   M.) , der für beträchtlichen Aufruhr gesorgt hat und wochenlang die französische Bestsellerliste anführte.
    Ich will gleich sagen, dass das Buch mehr ist als der lächerliche Wirbel, mit dem es vermarktet wurde; auch dass diejenigen, die sich gleich in die Lektüre stürzten, angelockt von seinem erotischen oder pornografischen Nimbus, eine Enttäuschung erlebten. Das Buch ist keine sexuelle Stimulans, auch kein Panoptikum an ausgefeilten Ritualen, wie die erotische Erfahrung sie hervorbringen mag, sondern eine intelligente, schonungslose, ungewöhnlich aufrichtige Reflexion, die zuweilen anmutet wie ein klinischer Bericht. Die Autorin beugt sich über ihr eigenes Sexualleben mit der eisigen und obsessiven Beflissenheit der Miniaturisten, die Buddelschiffe bauen oder auf einem Stecknadelkopf Landschaften malen. Und genauso sage ich auch gleich, dass das Buch, so interessant und wertvoll es ist, kein Lesevergnügen bereitet, denn das Bild vom Sex, das es vermittelt, ist fast so ermüdend und deprimierend wie jenes, das die acht ehelichen Überfälle ihrer Hochzeitsnacht bei Madame Victor Hugo hinterließen.
    Für ein Mädchen ihrer Generation, der Generation der großen Revolution der Sitten, für die der Mai 68 steht, begann Catherine Millet ihr Geschlechtsleben recht spät, mit achtzehn Jahren. Aber sofort holte sie die verlorene Zeit nach, vögelte wild drauflos, ob vornoder hinten, oben oder unten, in einem wahnsinnigen Tempo, bis sie Zahlen erreichte, die jene tausend bei weitem überstiegen haben dürften, die der belgische Vielschreiber Georges Simenon, der nicht nur die Tinte nicht halten konnte, in seinen Memoiren sich rühmt, an Frauen im Bett gehabt zu haben.
    Ich betone den quantitativen Faktor, weil sie selbst es in dem ausführlichen ersten Kapitel ihres Buches auch tut, überschrieben mit »Die Zahl«, worin sie ihre Vorliebe für die partouzes dokumentiert, den promisken Sex, den Gruppensex. In den siebziger und achtziger Jahren, bevor die sexuelle Freiheit an Schwung verlor und, unter dem Damoklesschwert von Aids, in ganz Europa aus der Mode kam, hatte Catherine Millet – die sich als eine schüchterne, disziplinierte, eher fügsame Frau beschreibt, die in den sexuellen Beziehungen eine Möglichkeit findet, mit Gleichgesinnten zu verkehren, wie es sich in anderen Lebensbereichen nicht leicht ergibt – Sex in Swingerclubs, im Gebüsch des Bois de Boulogne, am Straßenrand, in Hauseingängen, auf Parkbänken, einmal auch auf der Ladefläche eines Lieferwagens, wo sie mit Unterstützung

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