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Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Titel: Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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ihres Freundes Éric, der die Warteschlange organisierte, in ein paar Stunden Dutzende von Bewerbern abfertigte.
    Ich sage Bewerber, weil ich nicht weiß, wie ich diese flüchtigen und anonymen Begleiter im Abenteuer der Autorin nennen soll. Freier nicht, klar, denn Catherine Millet, die ihre Günste mit einer grenzenlosen Freizügigkeit spendete, nahm niemals Geld dafür. Bei ihr war Sex immer Hobby, Sport, Routine, Vergnügen, nicht Beruf oder Geschäft. Bei aller Hemmungslosigkeit, mit der sie ihn ausübte, sagt sie, sei sie niemals Opfer vonGewalt gewesen und habe sich nie in Gefahr gefühlt; selbst in Situationen, die an Gewalt grenzten, genügte ein einfaches Zeichen, und die Umgebung respektierte ihre Entscheidung. Sie hatte Liebhaber, und jetzt hat sie einen Ehemann – Schriftsteller und Fotograf, der einen Band mit Aktfotos seiner Frau herausgegeben hat –, aber bei einem Liebhaber darf man annehmen, dass eine einigermaßen feste Beziehung besteht, während die meisten Sexpartner von Catherine Millet kaum mehr sind als vorbeiziehende Schatten, beiläufig genommen und zurückgelassen, ohne auch nur ein Wort mit ihnen zu wechseln. Als Individuen ohne Namen, ohne Gesicht, ohne Geschichte erinnern die Männer, die durch ihr Buch ziehen, an all die verstohlenen Vulven in den Büchern der Libertins, sie sind nichts weiter als vagabundierende Schwänze. Bisher hatten in der Geständnisliteratur nur Männer solchen Sex, in blinder Abfolge und wild drauflos, ohne dass es sie kümmerte, mit wem. Millets Buch zeigt – und das ist vielleicht das wirklich Unerhörte daran –, dass all jene sich irrten, die glaubten, Sex am laufenden Band, verwandelt in rein fleischliche Gymnastik und völlig losgelöst von Gefühlen und Empfindungen, sei Männersache.
    Dabei geriert sich Catherine Millet in ihrem Buch keineswegs als Feministin. Sie führt ihre überreiche Erfahrung nicht als Bannerträgerin der Emanzipation vor oder wie eine Anklage gegen die sexuellen Vorurteile und Diskriminierungen, unter denen die Frauen immer noch zu leiden haben. Ihr Zeugnis ist frei von Tiraden und lässt nicht den geringsten Anspruch erkennen, mit dem, was sie erzählt, irgendeine allgemeine ethische, politische oder gesellschaftliche Wahrheit zu verkünden.Im Gegenteil, ihr Individualismus ist grenzenlos, ablesbar schon daran, dass sie aus ihrer Erfahrung partout keine Schlussfolgerung für alle Welt ziehen will, zweifellos weil sie nicht glaubt, dass es eine solche gibt. Aber warum hat sie dann mit einer beispiellosen sexuellen Selbstautopsie ihre Intimsphäre öffentlich gemacht, wo die allermeisten Menschen die ihre fest unter Verschluss halten? Man möchte meinen, um zu sehen, ob sie sich so besser versteht, ob sie aus dieser Perspektive dem dunklen Abgrund ihrer gewagten Initiativen, ihrer Exzesse und auch ihrer Verwirrtheit eine Erkenntnis abgewinnen und sie in klare und kohärente Gedanken fassen kann; einem Abgrund, der für sie, auch wenn sie ihn in aller Freiheit akzeptiert hat, immer noch der Sex ist.
    Was an ihrem Bericht am meisten verstört, ist die nüchterne Kälte, mit der er geschrieben ist. Eine um Klarheit bemühte Prosa, die effizient ist, oft abstrakt. Aber die Kälte bestimmt nicht nur den Ausdruck und das Denken. Auch die Thematik, der Sex, verströmt etwas Frostiges, Eisiges, vielfach auch Deprimierendes. Zwar versichert uns Catherine Millet, dass viele ihrer Partner sie befriedigen, ihr helfen, ihre Fantasien auszuleben, und dass sie glückliche Momente mit ihnen gekannt hat. Aber erfüllen sie sie wirklich, bringen sie sie zum Höhepunkt? Tatsache ist, dass ihre Orgasmen etwas Mechanisches haben, etwas Resigniertes und Trauriges. Sie selbst gibt es gegen Ende des Buches eindeutig zu verstehen, als sie darauf hinweist, dass sie, so unterschiedlich die jeweiligen Personen, mit denen sie schlief, auch waren, sich sexuell nie so verwirklicht gefühlt hat wie beim Masturbieren (»mit der Zuverlässigkeit eines Beamten«). Der weit verbreitete machistischeGlaube (wobei sich über diese Adjektivierung jetzt streiten ließe), wonach beim Sex allein in der Abwechslung das Vergnügen liege, stimmt so gesehen nicht. Sage Madame Millet es selbst: Keiner ihrer unzähligen Partner aus Fleisch und Blut hat es geschafft, ihre wirbellosen Phantome zu entthronen.
    Ihr Buch bestätigt, was alle Literatur, die allein um den Sex kreist, bis zum Überdruss gezeigt hat: abgetrennt von den übrigen Aktivitäten und Funktionen, die das

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