Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
Dasein bestimmen, ist er extrem eintönig und von einem so begrenzten Horizont, dass er schließlich verroht. Ein vom Sex und nur von ihm geprägtes Leben reduziert ihn auf eine primär organische Tätigkeit, die nicht edler oder vergnüglicher ist, als etwas Beliebiges hinunterzuschlucken oder Kot auszuscheiden. Erst wenn die Kultur ihn zivilisiert, ihn mit Gefühlen und Leidenschaft auflädt und mit Zeremonien und Ritualen schmückt, wird der Sex zu einer außerordentlichen Bereicherung, und seine Wohltaten strahlen in alle Winkel des Daseins. Für eine solche Sublimierung aber ist es, wie Georges Bataille erklärte, unerlässlich, dass bestimmte Tabus und Regeln, die den Sex zügeln und lenken, aufrechterhalten werden, so dass die körperliche Liebe als eine Überschreitung gelebt – genossen – werden kann. Uneingeschränkte Freiheit und der Verzicht auf alles Theatralische und Förmliche haben nicht dazu beigetragen, den Menschen einen glücklicheren Sex zu schenken. Sie haben ihn nur, indem sie die körperliche Liebe zu einem reinen Zeitvertreib machten, banalisiert.
Man sollte auch nicht vergessen, dass die sexuelle Freiheit, für die Millets Bericht so beredt Zeugnis ablegt, noch das Privileg kleiner Minderheiten ist. Während ichihr Buch las, erschien in der Presse eine Meldung über die Hinrichtung einer Iranerin, einer Frau, die ein mit Ajatollahs besetztes Provinzgericht für schuldig befand, in pornografischen Filmen mitgewirkt zu haben. Stellen wir klar, dass »Pornografie« in einer fundamentalistischen islamischen Theokratie darin besteht, dass eine Frau ihr Haar zeigt. Die nach dem Gesetz des Korans schuldig Gesprochene wurde auf einem öffentlichen Platz bis zu den Brüsten eingegraben und zu Tode gesteinigt.
El País , Madrid, 27. Mai 2001
V
Kultur, Politik und Macht
Kultur ist unabhängig von Politik, oder sollte es zumindest sein, auch wenn in Diktaturen das Gegenteil nicht ausbleibt, wo die Regime sich ermächtigt glauben, Normen zu diktieren und Grenzen abzustecken, innerhalb deren sich das kulturelle Leben abzuspielen hat, überwacht von einem Staat, der darauf achtet, dass sie nicht von der Doktrin, auf die die Regierenden sich stützen, abweicht. Das Ergebnis einer solchen Kontrolle ist, wie wir wissen, die fortschreitende Umwandlung von Kultur in Propaganda, ihre Auflösung aus Mangel an Originalität, Spontaneität, kritischem Geist und Willen zur Erneuerung und zum formalen Experiment.
In einer offenen Gesellschaft ist es bei aller Unabhängigkeit jedoch unvermeidlich und auch notwendig, dass Kultur und Politik in einer Beziehung und in Austausch stehen. Nicht nur weil der Staat, ohne die Freiheit des Schöpferischen und der Kritik zu beschneiden, kulturelle Aktivitäten unterstützen und befördern soll – zur Bewahrung des kulturellen Erbes vor allem –, sondern weil die Kultur auch Einfluss auf das politische Leben nehmen soll, sie soll die Politik kritisch begleiten und ihr, damit sie nicht verkommt, Werte und Modelle an die Hand geben. In der Kultur des Spektakels trägt der Einfluss, den die Kultur auf die Politik ausübt, leider nicht dazu bei, gewisse Qualitätsstandards und Integrität einzufordern, er verdirbt sie vielmehr moralischund lässt den Bürgersinn zuschanden gehen, setzt frei, was es an Schlechtestem in ihr geben kann, und macht sie zur reinen Farce. Wir haben schon gesehen, wie die Politik, im Gleichschritt mit der herrschenden Kultur, die Ideen und Ideale, die Debatten und Programme immer mehr durch bloßes Werbebohei ersetzt. Folgerichtig erreicht man Popularität und Erfolg weniger durch Intelligenz und Redlichkeit als durch Demagogie und schauspielerisches Talent. Womit sich ein kurioses Paradox ergibt: Während in autoritären Gesellschaften die Kultur von der Politik korrumpiert und verdorben wird, ist es in den modernen Demokratien gerade die Kultur – oder das, was diesen Namen für sich beansprucht –, welche die Politik und die Politiker korrumpiert und verdirbt.
Um zu veranschaulichen, was ich meine, tue ich einen kleinen Sprung in die Vergangenheit, in das öffentliche Leben, das ich am besten kenne, das peruanische.
Als ich 1953 in Lima an der Universität San Marcos zu studieren begann, war »Politik« landesweit ein anrüchiges Wort. Die Diktatur des Generals Manuel Apolinario Odría (1948-1956) hatte es geschafft, dass für viele Peruaner »in die Politik zu gehen« bedeutete, sich einer kriminellen Tätigkeit hinzugeben, verbunden mit
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