Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
Politik kennt keine Grenzen, und was dahintersteht, ist unbestreitbar: Mit je nach Land typischen Ausprägungen und Abstufungen ist fast auf der ganzen Welt, der entwickelten wie der unterentwickelten, das intellektuelle, professionelle und ohne Zweifel auch moralische Niveau der politischen Klasse gesunken. Das gilt nicht nur für Diktaturen. Die Demokratien erleben diesen Verfall genauso, und die Folge ist eine Politikverdrossenheit, wie sie sich fast überall an der hohen Wahlabstinenz ablesen lässt. Ausnahmen sind selten. Wahrscheinlich gibt es keine Gesellschaft mehr, in der das politische Geschäft die Besten anzieht.
Doch warum macht sich die ganze Welt diesen Gedanken zu eigen, den alle Diktatoren den von ihnen unterjochten Völkern immer eintrichtern wollten, dass nämlich politisches Engagement etwas Schäbiges sei?
Vielerorts ist Politik tatsächlich schmutzig und schäbig, oder sie ist es zumindest geworden. »Aber das warsie schon immer«, sagen die Pessimisten und die Zyniker. Nein, das stimmt nicht, und sie ist es auch heute nicht überall auf die gleiche Weise. In vielen Ländern und zu vielen Zeiten war staatsbürgerliches Engagement zu Recht hoch angesehen, weil es tüchtige Leute waren, die sich einsetzten, und weil die negativen Aspekte nicht ins Gewicht fielen gegenüber dem Idealismus, dem Verantwortungsgefühl und der Ehrlichkeit der politischen Klasse. In unserer Zeit werden die negativen Seiten des Politikbetriebs jedoch oft auf eine geradezu unverantwortliche Weise von der Boulevardpresse aufgebauscht, mit dem Ergebnis, dass die öffentliche Meinung zu der Überzeugung gelangt ist, Politik sei das Geschäft eines amoralischen, ineffizienten und zur Korruption neigenden Personals.
Die Entwicklung der digitalen Medien, mit denen sich in autoritären Gesellschaften die Zensur- und Kontrollsysteme aushebeln lassen, sollte die Demokratie vervollkommnet und die Teilhabe am öffentlichen Leben befördert haben. Aber es hat eher den gegenteiligen Effekt gehabt, denn die kritische Funktion des Journalismus ist ob der Frivolität und der Unterhaltungsgier der herrschenden Kultur oft nur noch eine verzerrte. Indem der Journalismus, so wie Julian Assange mit Wikileaks, selbst die läppischsten Interna aus Politik und Diplomatie ans Licht der Öffentlichkeit bringt, trägt er dazu bei, dass einer Beschäftigung, die einmal eine gewisse mythische Aura besaß, die Aura eines Raums, in dem die Zivilcourage gedieh und für die Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, Fortschritt und Freiheit gestritten wurde, dass dieser Beschäftigung alle Achtbarkeit und Seriosität abhandenkommt. Das wilde Stochernnach dem Skandal und der billige Klatsch, der sich an den Politikern verbeißt, hat in vielen Demokratien dazu geführt, dass das, was die Öffentlichkeit von ihnen am besten kennt, nur das Schlimmste ist, was sie von sich zeigen können. Und was sie von sich zeigen, ist dann diese traurige Farce, zu der unsere Zivilisation macht, was immer sie berührt, eine Farce mit Hampelmännern, die sich der schlimmsten Tricks bedienen, um die Gunst eines nach Unterhaltung gierenden Publikums zu gewinnen.
Ein Problem ist das nicht, denn für Probleme gibt es eine Lösung. Nur ist hier keine in Sicht, und ein Entrinnen gibt es nicht. Theoretisch sollten Gerichte die Grenzen abstecken, was von öffentlichem Interesse ist und was gegen Persönlichkeitsrechte verstößt. In den meisten Ländern können sich jedoch nur Reiche einen solchen Prozess überhaupt leisten. Außerdem sind Richter oft, aus prinzipiell sehr achtbaren Gründen, wenig geneigt, Urteile zu sprechen, die dazu angetan sind, die Meinungs- und Informationsfreiheit – Grundrechte in einer Demokratie – einzuschränken oder aufzuheben.
Der Skandaljournalismus ist ein perverses Stiefkind der Kultur der Freiheit. Man kann ihn nicht verbieten, ohne der Meinungsfreiheit einen tödlichen Schlag zu versetzen. Da das Heilmittel schlimmer wäre als die Krankheit, müssen wir ihn ertragen, so wie manche Betroffene einen Tumor ertragen, weil sie wissen, ihn herauszuschneiden könnte sie das Leben kosten. Aber der Grund dafür, dass es so weit gekommen ist, sind nicht die finsteren Machenschaften einiger geldgieriger Eigentümer von Zeitungshäusern oder Fernsehkanälen, die bar jedes Verantwortungsgefühls die niederen Instinkte der Leute bewirtschaften. Das ist nur die Folge, nicht die Ursache.
So konnte man es unlängst in England erleben, wo man bis dahin noch
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