Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
und womöglich traumatisiert. Ein Beispiel hierfür ist die jüngste internationale Finanzkrise, die den ganzen Westen ins Wanken gebracht hat. Es war die entfesselte Gier von Bankern und Finanzinvestoren, die die Spielregeln des Marktes verletzten, täuschten und betrogen und eine Katastrophe heraufbeschworen, die Millionen von Menschen auf der Welt ruiniert hat.
Außerdem bewirkt der Kapitalismus mit seiner Kreativität und, sagen wir ruhig: seinen Luftnummern einezuweilen abenteuerliche Verwechslung von Preis und Wert, wobei Letzterer immer Schaden nimmt, was früher oder später zur Degradierung der Kultur und des Geistes führt, womit wir wieder bei der Kultur des Spektakels sind. Der Markt bestimmt den Preis eines Produkts je nach Angebot und Nachfrage, was dazu geführt hat, dass fast überall, selbst in den kultiviertesten Gesellschaften, künstlerische Werke von höchstem Wert abgedrängt und aussortiert werden, weil sie nun mal schwierig sind und, damit man sie wirklich schätzen kann, eine gewisse geistige Bildung und ein geschärftes Empfinden erfordern. Wo aber der Geschmack des großen Publikums den Wert bestimmt, bleibt es nicht aus, dass mittelmäßige oder ganz und gar unerhebliche Schriftsteller, Denker und Künstler, so sie sich geschickt positionieren und selbst vermarkten, wenn nicht den schlimmsten Instinkten des Publikums anstellig schmeicheln, höchste Popularitätswerte erreichen und der ungebildeten Mehrheit als die besten erscheinen, deren Werke die weiteste Verbreitung finden und am teuersten gehandelt werden. In der bildenden Kunst hat dies, wir haben es gesehen, dazu geführt, dass dank der Moden und der Manipulation des Sammlergeschmacks durch Galeristen und Kritiker Werke von wahren Betrügern schwindelerregende Summen erzielen. Weshalb Intellektuelle wie Octavio Paz den Markt verurteilten und die Ansicht vertraten, er sei der große Verantwortliche für den Bankrott unserer heutigen Kultur. Es ist ein großes und komplexes Thema, und es mit all seinen Aspekten zu beleuchten würde uns zu weit wegführen von dem, worum es in diesem Kapitel geht, nämlich die Funktion der Religion in der Kultur unserer Zeit. DerHinweis mag genügen, dass Religion, so wie der Markt, nicht ohne Einfluss ist auf diese Anarchie und die vielfältigen Missverständnisse, die das Auseinanderdriften von Preis und Wert in der Kulturindustrie bedeutet hat, das Verschwinden der Eliten und jener Kritiker, die früher einmal Hierarchien und ästhetische Maßstäbe aufstellten, ein Phänomen, das nicht direkt mit dem Markt in Verbindung steht, sehr wohl aber mit dem Bestreben, die Kultur zu demokratisieren und sie aller Welt zugänglich zu machen.
Alle großen liberalen Denker, von Adam Smith über John Stuart Mill, Ludwig von Mises, Friedrich Hayek und Karl Popper bis hin zu Isaiah Berlin und Milton Friedman, haben darauf hingewiesen, dass die ökonomische und politische Freiheit ihre zivilisatorische Funktion – Schaffung von Wohlstand und Beschäftigung, Schutz des souveränen Individuums, Geltung des Gesetzes und Achtung der Menschenrechte – nur erfüllen kann, wo die Gesellschaft ein waches geistiges Leben pflegt, mit einer verbindlichen und gelebten Hierarchie von Werten. Dies ist ihrer Meinung nach die beste Gewähr dafür, dass Preis und Wert sich decken oder zumindest annähern. Die großen Fehlschläge und Krisen, die das kapitalistische System immer wieder erlebt – Korruption, Vorteilsnahme oder Absprachen, um sich am Gesetz vorbei zu bereichern, die unglaubliche Gier, welche die Betrügereien erklärt, die Bankhäuser und Finanzinstitute sich im großen Stil leisten und dergleichen mehr –, sie rühren nicht von einer grundlegenden Fehlkonstruktion seiner Institutionen her, sondern vom Zusammenbruch des moralischen und geistigen Haltes, wie ihn das religiöse Leben bietet, ein gleichsampermanentes Korrektiv, das den Kapitalismus zügelt und ihm aufgibt, bestimmte Regeln des Anstands, denNächsten und das Gesetz zu achten. Sobald dieses unsichtbare, aber wirkmächtige Gefüge ethischen Charakters zerfällt und schwindet, beginnt im Wirtschaftsleben die Anarchie zu greifen, und die Wirtschaft der freien Gesellschaften wird unterhöhlt von jenen zerrüttenden Elementen, die zu einem immer größeren Misstrauen gegen ein System führen, das nur noch zum Wohle der Mächtigsten (oder Schlauesten) und zum Schaden der einfachen Bürger zu funktionieren scheint. Die Religion, die den Kapitalismus einst im
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