Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
Religionen. Sie dulden und verkünden nur absolute Wahrheiten, und eine jede lehnt die Wahrheiten der anderen kategorisch ab. Alle wollen die Seelen und die Herzen der Menschen gewinnen und darüber hinaus ihr Verhalten bestimmen. Alsdas Christentum noch, ausgegrenzt und verfolgt, eine Religion der Katakomben war, der Armen und Schutzbedürftigen, bedeutete es eine Form der Zivilisation, die im Widerspruch stand zur Barbarei der Heiden, zu ihrer wahnsinnigen Gewalt, ihren Vorurteilen und abergläubischen Praktiken, ihren Ausschweifungen und ihrem unmenschlichen Umgang mit dem Nächsten. Doch als es sich ausbreitete, die herrschenden Klassen in ihre Reihen zog und dazu überging, mitzuregieren oder die Gesellschaft ganz unmittelbar zu regieren, verlor das Christentum sein einstmals sanftes Antlitz. An der Macht wurde es intolerant, dogmatisch, exklusiv und fanatisch. Die Verteidigung des rechten Glaubens brachte die katholische Kirche dazu, ebensolche oder schlimmere Gewalttaten abzusegnen oder zu verüben wie die, welche die ersten Christen unter den Heiden erlitten hatten, sie überzog ihre Gegner mit Krieg und schändlichen Grausamkeiten und legitimierte dies obendrein. Die Nähe zur Macht oder ihre direkte Ausübung verleitete die Kirche oftmals dazu, Königen, Fürsten, Caudillos und ganz allgemein den Mächtigen beschämende Zugeständnisse zu machen. Wenn die Kirche in manchen Epochen, der Renaissance etwa, die Entwicklung der Kunst förderte – weder Dante noch Piero della Francesca oder Michelangelo wären ohne sie möglich gewesen –, gab sie sich, sobald es um die Gedanken ging, gleich so brutal repressiv, wie sie es von Anfang an gegenüber den Wissenschaften gewesen war, zensierte der Irrlehre verdächtige Denker, Forscher und Künstler und bestrafte sie mit Folter und Tod. Kreuzzüge, Inquisition und der Index stehen hier für die Unnachgiebigkeit und den Dogmatismus, mit denen die Kirche die Freiheit des Geistes bekämpfte, aberauch die harten Schlachten, die die großen Kämpfer für die Freiheit in den katholischen Ländern gegen sie schlagen mussten. Die protestantischen Länder waren weniger intolerant gegenüber der Wissenschaft, und die Kunst wurde weniger streng zensiert, doch was Familie, Sex und Liebe anbetraf, war man mindestens genauso streng wie in den katholischen Gesellschaften. Hier wie dort fand die Diskriminierung der Frau ihre Wortführerin immer in der Kirche, und hier wie dort ermunterte oder duldete sie den Antisemitismus.
Erst mit der Säkularisierung sollte die Kirche akzeptieren (besser gesagt, sich damit abfinden), dass sie dem Kaiser geben musste, was des Kaisers war, und Gott, was Gottes ist; musste eine strikte Trennung zwischen Geistlichem und Weltlichem zulassen und ihre Souveränität auf das eine beschränken und beim anderen respektieren, was alle Bürger, ob Christen oder nicht, bestimmten. Ohne diesen Prozess, der die Kirche von der weltlichen Herrschaft schied, hätte es keine Demokratie gegeben, ein System des Miteinanders in der Vielfalt, des bürgerlichen und auch religiösen Pluralismus und der Gesetze, die nicht nur nicht mit der christlichen Philosophie und Moral übereinstimmen müssen, sondern zuweilen radikal von ihr abweichen. Während der Französischen Revolution, in den anarchistischen und kommunistischen Kreisen während der Zweiten Spanischen Republik oder in einer bedeutenden Phase der Mexikanischen Revolution und in den Revolutionen Russlands und Chinas wurde die Säkularisierung als ein notwendiger Frontalangriff auf die Religion verstanden. Klöster und Kirchen wurden in Brand gesteckt, Mönche und Nonnen, Priester und Gläubige ermordet,der Gottesdienst wurde verboten, jede Form christlicher Unterweisung aus dem Unterricht verbannt, der Atheismus nach Kräften befördert und Materialismus gelehrt. All das war nicht nur grausam und ungerecht, sondern vor allem unnütz. Die Verfolgungen bewirkten das Gleiche wie das Beschneiden eines Baumes, denn nach einer Weile erblühten Glaube und religiöse Praktiken nur umso üppiger. Frankreich, Russland und Mexiko sind dafür die besten Beispiele.
Säkularisierung kann niemals Verfolgung bedeuten, nicht Diskriminierung noch Verbot eines bestimmten Glaubens oder Kultes, sondern allein uneingeschränkte Freiheit, damit alle Bürger ihren Glauben ungehindert leben und ausüben können, solange sie nur die demokratischen Gesetze achten. Pflicht der Parlamente und Regierungen ist es, zu garantieren, dass
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