Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
werden oder verderben. Zu einer demokratischen Kultur gehören nicht allein Institutionen und Gesetze, die für Gerechtigkeit sorgen, für Gleichheit vor dem Gesetz, Chancengleichheit, freie Märkte, eine unabhängige und effiziente Justiz mit integren und kompetenten Richtern, politischen Pluralismus, Pressefreiheit, eine starke Zivilgesellschaft, die Einhaltung der Menschenrechte; zu ihr gehört vor allem auch die in der Bürgerschaft verwurzelte Überzeugung, dass die Demokratie das bestmögliche politische System ist, sowie der Wille, daran mitzuwirken, dass es weiter funktioniert. Doch Wirklichkeit kann dies nicht werden ohne einige tief im Gemeinwesen verankerte bürgerliche und moralische Werte und Leitvorstellungen, etwas, was für die meisten Menschen von manchen religiösen Überzeugungen nun einmal nicht zu unterscheiden ist. Sicher, seit dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert hat es in der westlichen Welt unter den – immer minoritären – Freidenkern die schönsten Beispiele gegeben für Menschen, deren Agnostizismus oder Atheismus sie keineswegs daran hinderte, ein untadeliges, von Rechtschaffenheit, Gesetzestreue und Solidarität bestimmtes bürgerliches Leben zu leben. Dies gilt auch, im Spanien der ersten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts, für all die von der anarchistischen Ideologie geprägten Lehrerinnen und Lehrer, deren weltliche, von großem Bürgersinn getragene Moral sie zu wahren sozialen Missionaren machte, die sich unter großen persönlichen Opfern und spartanischer Lebensführung bemühten, die Ärmsten zu alphabetisieren und auszubilden. Vieleähnliche Beispiele ließen sich nennen. Aber es waren immer Ausnahmen, eine solche weltliche Moral hat sich nur in kleinen Gruppen entfaltet. Für die große Mehrheit besteht nach wie vor kein Zweifel daran, dass die Religion die erste und größte Quelle jener moralischen und bürgerlichen Prinzipien ist, die der demokratischen Kultur ihren Halt geben; und dass es für die demokratischen Institutionen ein böses Erwachen geben könnte, wenn die Religion – wie heute in den freien Gesellschaften der Ersten und auch der Dritten Welt – zu ermatten beginnt, an Dynamik und Ansehen verliert, oberflächlich und frivol wird und nur noch als gesellschaftlicher Zierrat besteht.
Wir kennen das aus den verschiedensten Bereichen. Am sichtbarsten aber tritt es zweifellos in der Wirtschaft zutage.
Katholische Kirche und Kapitalismus haben sich noch nie gemocht. Seit den Anfängen der industriellen Revolution in England, welche die ökonomische Entwicklung und die Marktwirtschaft in Schwung brachte, haben die Päpste in Predigten und Enzykliken immer wieder scharf ein System verurteilt, das ihrer Meinung nach eine materialistische Einstellung, Egoismus und Individualismus befeuert, die Unterschiede zwischen Arm und Reich verstärkt und die Menschen dem spirituellen und religiösen Leben entfremdet. An dieser Kritik ist etwas Wahres dran, aber sie verliert ihre Überzeugungskraft, wenn man sie in einen weiteren historischen Kontext stellt und die positive Transformation betrachtet, die das Privateigentum und eine freie Wirtschaft gebracht haben, in der Unternehmen und Unternehmer im Rahmen klarer und ausgleichender Regeln darumkonkurrieren, die Bedürfnisse der Verbraucher zu befriedigen. Diesem System ist zu verdanken, dass sich ein bedeutender Teil der Bevölkerung von dem befreite, was Marx den »Idiotismus des Landlebens« nannte, dass die Wissenschaften, insbesondere die Medizin, sich entwickeln konnten und dass in allen offenen Gesellschaften der Lebensstandard auf atemberaubende Weise anstieg, während die geschlossenen Gesellschaften in einer patrimonialistischen und merkantilistischen Ordnung erstarrten, einer Ordnung, die einem großen Teil der Weltbevölkerung Mangel und Elend brachte und ein paar Mächtigen obszönen Luxus. Der freie Markt, ein unübertroffenes und unübertreffliches System für die Verteilung von Ressourcen, hat jenen Mittelstand hervorgebracht, der den modernen Gesellschaften mit politischem Pragmatismus Stabilität verleiht, und er hat dafür gesorgt, dass eine große Mehrheit ihrer Bürger ein würdiges Leben führen kann, was es so in der Menschheitsgeschichte noch nie gegeben hat.
Allerdings stimmt es auch, dass dieses System die ökonomischen Unterschiede vertieft und den Materialismus befördert, mithin eine egoistische und aggressive Haltung, die, wenn nichts sie bremst, die Gesellschaft zutiefst verstört
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