Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
niemand wegen seines Glaubens bedrängt oder verfolgt wird, und zugleich alles dafür zu tun, dass die Gesetze befolgt werden, egal wie weit sie von einer religiösen Lehrmeinung abweichen. So war es in allen demokratischen Ländern, wenn es um Scheidung, Abtreibung oder Geburtenkontrolle ging, um Homosexualität oder gleichgeschlechtliche Ehe, Sterbehilfe oder die Legalisierung von Drogen. Im Allgemeinen hat sich die Kirche darauf beschränkt, zu protestieren, und versucht, mit Manifesten, Versammlungen, Publikationen und Kampagnen die öffentliche Meinung gegen solche Reformen zu mobilisieren, auch wenn es in ihrer Mitte immer wieder Geistliche und Institutionen gibt, die der extremen Rechten zuneigen und diese aktiv unterstützen.
Die Trennung von Kirche und Staat ist eine Grundvoraussetzung für das Überleben und die Weiterentwicklung der Demokratie. Um das zu erkennen, reicht ein Blick auf die Gesellschaften, in denen der Prozess der Säkularisierung kaum oder gar nicht stattgefunden hat, so in den meisten muslimischen Ländern. Die Verschmelzung von Staat und Islam – am augenfälligsten in Saudi-Arabien und dem Iran – war immer ein unüberwindliches Hindernis für die Demokratisierung und hat dazu gedient – selbst heute noch, auch wenn in der arabischen Welt endlich ein emanzipatorischer Prozess begonnen zu haben scheint –, diktatorische Systeme zu stützen, Regime, die eine friedliche und freie Koexistenz der Religionen verhindern, das Privatleben der Bürger einer despotischen Kontrolle unterwerfen und jene mit aller Härte bestrafen (bis hin zu Gefängnis, Folter und Hinrichtung), die sich den Vorschriften der einzigen erlaubten Religion nicht beugen. Vor der Säkularisierung war die Situation in den christlichen Gesellschaften kaum anders, und sie wäre es noch, wenn sich dieser Prozess nicht vollzogen hätte. Katholizismus und Protestantismus übten sich in Toleranz und lernten, mit den anderen Religionen zu leben, nicht weil ihre Lehre weniger totalitär und intolerant wäre als die des Islams, sondern von den Verhältnissen gezwungen, unter einem gesellschaftlichen Druck, der die Kirche in die Defensive drängte und sie verpflichtete, sich den demokratischen Gepflogenheiten anzupassen. Es stimmt nicht, dass der Islam mit der Kultur der Freiheit unvereinbar wäre, nicht weniger jedenfalls als das Christentum. Der Unterschied ist, dass es in den christlichen Gesellschaften, angestoßen durch widerständige politische Bewegungen und weltliche Philosophien, eine Entwicklung gegeben hat, die die Religion zwang, sich zu privatisieren,zu entstaatlichen, nur so konnte die Demokratie gedeihen. In der Türkei war es Mustafa Kemal Atatürk, dem die Gesellschaft einen solchen Säkularisierungsprozess verdankt (vorangetrieben mit gewaltsamen Methoden), und auch wenn die Türken mehrheitlich Muslime sind, hat sich das Land sehr viel weiter auf die Demokratie zubewegt als die übrigen islamischen Staaten.
Weltanschauliche Neutralität richtet sich nicht gegen die Religion; sie richtet sich dagegen, dass die Religion die Ausübung der Freiheit beeinträchtigt und Pluralismus und Vielfalt bedroht, beides Kennzeichen einer offenen Gesellschaft. In einer solchen gehört die Religion in die Sphäre des Privaten und maßt sich keine Funktion des Staates an, der seinerseits weltlich bleiben muss, eben um auf religiösem Gebiet ein stets problematisches Monopol zu verhindern. Und nur so auch kann der Staat, in der Erfüllung seiner Aufgaben an keine religiöse Einrichtung gebunden, die Unparteilichkeit wahren, die allen Bürgern das Recht garantiert, sich zu der Religion ihrer Wahl zu bekennen oder alle abzulehnen. Solange die Religion Privatsache bleibt, ist sie keine Gefahr für die demokratische Kultur, sie ist vielmehr ihre Basis und ein durch nichts zu ersetzendes Komplement.
Hier berühren wir ein heikles Thema, über das es unter Demokraten keine Einigkeit gibt, nicht einmal unter den liberalen. Es ist vermintes Terrain, das wir vorsichtig betreten müssen. So wie ich der festen Überzeugung bin, dass der Laizismus unabdingbare Voraussetzung für eine wirklich freie Gesellschaft ist, glaube ich nicht minder fest, dass es in ihr, eben damit sie frei sein kann, auch eine tiefe Spiritualität geben muss – was für die große Mehrheit gleichbedeutend ist mit Religiosität –, daandernfalls weder die Gesetze noch die Institutionen, so gut sie auch verfasst sein mögen, richtig funktionieren und rasch stumpf
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