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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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wenn auch widerwärtigen Ablauf der Fleischwolfaktion verlor sich auch die Furcht vor der Kontrolle.
    Er hätte sich leicht über den Stand der Dinge informieren können. Bei Ingomar Kranz. Den sah er zumindest ab und zu im Fernsehen bei einem Aufsager. Dort war ihm nichts anzumerken. Kranz anzurufen, traute er sich nicht. Die Euphorie, die ihn nach dem Entschluss, Kranz das Video zu zeigen, erfasst hatte, war verflogen. Es war keine Explosion erfolgt, kein Skandal erschütterte die Provinz, alles blieb ruhig. Darauf war er nicht gefasst gewesen. Er hatte damit gerechnet, vom Dienst suspendiert zu werden, er hatte damit gerechnet, jeden Tag einer anderen Fernsehanstalt ein Interview geben zu müssen, und mit vielen anderen Unannehmlichkeiten mehr hatte er gerechnet. Aber nicht damit – dass gar nichts geschah. Als hätte es das entsetzliche Video mit dem weißen Paket nie gegeben.Manchmal zweifelte er, ob er tatsächlich gesehen hatte, was er glaubte, dort gesehen zu haben; aber er wagte nicht, das File hochzuladen und noch einmal anzuschauen.
    Er konnte sich, so dachte er später, nicht vorwerfen, nachgerade mit Absicht wieder in die Sache eingedrungen zu sein. Das hatte er nämlich nicht getan. Er hielt sich von allem zurück, was die wunderbare Ruhe seines Lebens stören konnte. Er las zum Beispiel keine Zeitungen mehr. Nicht die lokale, marktbeherrschende, für die er etwa fünf Minuten gebraucht hatte, noch eine überregionale, für die er zehn Minuten brauchte. Die Lokalzeitung war abonniert, er ließ sich von seiner Frau beim Frühstück das Interessante vorlesen – das sei doch viel kommunikativer, meinte er auf ihr Erstaunen, wenn einer etwas vorlas und dann darüber gesprochen wurde, als wenn dieser eine sich in die Zeitung vergrub und keinen Ton von sich gab. Sie ließ sich gern zur neuen Sitte bekehren. Das Frühstück verlief kommunikativer, sogar heiterer. Hilde hatte das Talent, solche Sachen auszusuchen, über die man reden, sich ereifern, manchmal lachen konnte. Das war schön, kein Vergleich zu früher. Erst nach vierzehn Tagen fiel ihm ein, dass dieses Verfahren eine große Gefahr in sich trug. Wenn ihm seine Frau nun etwas von einer vermissten Person vorlas – von einer neuen vermissten Person, dann würde die heile Welt zusammenbrechen. Aber seine Frau las von keinen vermissten Personen vor. Weder von denen, die in dieser Causa schon vermisst wurden, noch von neuen.
    Die Sache begann mit dem Mitarbeiter Thomas Fimberger aus dem Ruder zu laufen. Nicht, dass Fimberger etwas Ungewöhnliches oder Anrüchiges getan hätte. Er war weder neugierig noch schlampig; er schnüffelte nicht in Sachen herum, die ihn nichts angingen, er blieb niemals länger als bis siebzehn Uhr, und er machte niemals Überstunden. Er kontrolliertekeine Abläufe, außer jene, die ihm Dipl.-Ing. Galba aufgetragen hatte, und er ließ nie absichtslos seine Blicke schweifen , worauf ihm plötzlich ein merkwürdiges Detail auffiel … wie das immer in den US-Kriminaldokus hieß; Thomas Fimberger lebte für seine fünfköpfige Familie und seinen Hausumbau, der seit Jahren all seine Kräfte und seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte. Wäre es nach Thomas Fimberger gegangen, der aus Kärnten stammte und sich glücklich nach Vorarlberg verheiratet hatte, so hätte die halbe Bevölkerung Dornbirns in der Blechhütte verschwinden können, ohne dass ihm etwas aufgefallen wäre, nicht an der Blechhütte mit ihrem Apparat und nicht an der ausgedünnten Bevölkerung.
    Aber Thomas Fimberger neigte zu Erkältungen. Er litt, wie er oft betonte, an nichts und war kerngesund, noch nie im Spital gewesen und so weiter, ein kerniger Kärntner Bua – aber Zugluft vertrug er nicht. Wenn die Tage kürzer wurden, begann er über rauhen Hals zu klagen und beginnenden Schnupfen. Und einen roten Schal zu tragen, wenn er aus dem Gebäude musste. Als Kärntner Naturbursche verabscheute er Medikamente und die ganze Chemie , schwor auf natürliche Mittel. Besondere Teemischungen und vernünftige Kleidung – dazu zählte auch der rote Schal, den er aber nur so lange trug wie nötig , wie er betonte und jedem, der sich dafür interessierte, erklärte. Auch jedem, der sich nicht dafür interessierte. Länger als zwei Tage müsse er den Schal nicht tragen, betonte er, dann sei die beginnende Verkühlung auch schon im Keim erstickt. Dank der überragenden prophylaktischen Wirkung des Huflattich, den seine Frau selber sammelte (in einem total unbelasteten,

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