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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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sah zum Fenster hinüber. Es war dunkel, ein schwarzes Rechteck, das die Außenwelt verschluckt hatte, die Umgebung, die Bäume im Stadtpark, die Rückseite des Rathauses, die auch. Sie war da und würde morgen sichtbar sein, aber das würde kein Problem mehr sein, denn Oskar Karasek würde nicht mehr am Fenster seines Büros im zweiten Stock vorbeigehen; nicht in aller Herrgottsfrühe und auch zu keiner anderen Tages- oder Jahreszeit und dadurch Ingomar Kranz den Tag vermiesen. Nein, das würde der Stadtrat Karasek nicht mehr tun. Bei diesem Gedanken durchströmte Ingomar Kranz ein Glücksgefühl, wie er es noch nie empfunden hatte; so stark, dass er es im ersten Augenblick nicht als glücklich einordnen konnte; so neu, dass es als Anfangspunkt eines neuen Lebens gelten durfte, so intensiv, dass er es für immer festhalten wollte. Und es verschwand nicht wie ein Rausch, verflüchtigte sich nicht zur leeren Erinnerung. Es wurde schwächer, aber es verschwand nicht. Blieb unter der Oberfläche wie etwas sehr Kostbares, Reines, wie das Wissen um einen wunderbaren Besitz. Er musste nur daran denken und holte es dadurch zurück. Von nun an würde jeder Tag eine Rückversicherung tragen, Hilfe in schwerer Zeit und nie versagenden Trost: das Wissen, dass er geholfen hatte, Oskar Karasekumzubringen. Das würde ihm bleiben bis in seine letzte Stunde.
    »Was haben Sie denn? Ist Ihnen nicht gut? Sie haben ganz wässrige Augen … Weinen Sie etwa? Um diesen Karasek … Ich hab’s gewusst, Sie kriegen den Moralischen, das hat mir noch gefehlt …«
    »Nein, nein«, unterbrach ihn Ingomar, »es ist anders … Ja, ich bin kurz davor, loszuheulen, ich geb es zu, ich hab nahe am Wasser gebaut – aber vor Freude, glauben Sie mir. Wir haben das Richtige getan!« Er streckte Weiß die rechte Hand entgegen.
    Weiß sah ihn an, musterte ihn mit Polizistenblick, seine Züge entspannten sich, er ergriff die dargebotene Hand, schlug ein. »Da haben Sie recht«, sagte er, »es war das Richtige.«

8

    Anton Galba spürte nach langer Zeit wieder so etwas wie innere Ruhe. Die Sache selbst, so schien es, war zur Ruhe gekommen. Seine Frau half ihm dabei. Sie verbreitete in ihren Reden erfrischende Alltäglichkeit. Sprach von Begegnungen mit Bekannten, über den Garten und seine Bepflanzung, und ob man eventuell im nächsten Urlaub einmal nach Lanzarote fahren sollte. Ihre Freundin Maria kam zu Besuch. Die Freundschaft hatte eine Intensivierung erfahren, die sich Anton Galba nicht recht erklären konnte und die ihm deshalb unheimlich war – vom abwesenden Herrn Hopfner wurde nie gesprochen. Der blieb verschwunden, Maria schien sich damit abgefunden zu haben. Nicht, dass sie den Eindruck besonderer Trauer machte, das war nach ihren Erlebnissen mit Hopfner auch nicht zu erwarten; sie zeigte aber auch keine Furcht vor einem eventuellen Auftauchen dieses Menschen – das Thema war abgeschlossen, Galba kam es merkwürdig vor – sie konnte doch nicht wissen, ob Hopfner nicht eines unschönen Tages wieder vor ihrer Tür stehen würde. Aber das schien für Maria Hopfner keine Option darzustellen. Er sah darin eine beachtliche Verdrängungsleistung.
    »Wie hat sie es eigentlich finanziell?«, fragte er seine Frau nach einem Grillabend.
    »Ach, ganz gut, sie wird von einem Verein unterstützt – so Philanthropen, die anonym bleiben wollen.«
    Anton Galba sagte nichts mehr.
    Zu Nathanael Weiß gab es keinen Kontakt. Dieser Stille in ihren Beziehungen war kein Zerwürfnis vorausgegangen, keinAusbruch aggressiver Gefühle, überhaupt nichts Negatives, wenn man die Enttäuschung des Inspektors über die mangelnde Mordbegeisterung des Schulkameraden nicht als ein solches werten mochte.
    Später musste er eingestehen, dass er sich die ganze Zeit wie ein Kind verhalten hatte; ein Kind, das glaubt, die Welt durch Einhaltung magischer Riten im Griff zu haben: dies und jenes nicht tun – und dies und jenes Schlimme wird nicht passieren. Also: nicht nach Nathanael Weiß fragen und jener wird mit seinem Treiben aufhören und ihn, Galba, nicht mehr behelligen. Die Überwachungskamera zeigte Tag für Tag dasselbe. Fleischabfälle wurden von den Mitarbeitern Fimberger oder Bösch in den Trichter geworfen und zermahlen. Fleischabfälle, nichts sonst. Galba kontrollierte die Videodateien jeden Tag kurz vor Dienstschluss. Anfangs war diese Kontrolle eine schwere Belastung gewesen, vor der er sich den ganzen Tag lang fürchtete, aber mit dem immer selben, harmlosen,

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