Alles Fleisch ist Gras
konnte auch nur zu Fuß an jenen Riedgraben oder mit einem Ross. Ingomar hatte kein Ross. Der Treffpunkt hing mit der Femegeschichte zusammen, das war klar, also sollte dort etwas beschlossen werden, von dem Ingomargehofft hatte, er werde es nie erfahren. Aber das war kindisch, er wusste das; mitgegangen, mitgefangen, mitge… Er verzichtete darauf, den Spruch zu vollenden, der sicher auch aus dem Mittelalter stammte, dieser Aspekt der Angelegenheit war ihm fast noch mehr zuwider als der technische, für den man sehr lang eingesperrt würde; das mythische Geraune, Feme, Freigericht und der ganze Kokolores. Aber er war nicht in der Position, Bedingungen zu stellen. Nicht einmal Änderungen vorzuschlagen.
Die kleine Brücke fand er nach der Wegbeschreibung ohne Probleme, den Weg dahin mit einer Taschenlampe. Die Frau, die er das letzte Mal nur von fern gesehen hatte, war auch da. Sie sah nach nichts aus, ein Hausfrauengesicht. Aber sympathisch, das wurde rasch klar. Sie schien ihn zu mustern. Es war seltsam, er konnte es nicht sehen, denn an der kleinen Brücke war es inzwischen so dunkel, dass man die Züge des Gegenübers nicht mehr erkennen konnte; Kranz hatte nur das Gefühl, von dieser Frau betrachtet zu werden. Mit Interesse. Sie sprachen erst von anderen Dingen, Fernsehsachen, aber ihre Stimme vermittelte den Eindruck, sie nehme tatsächlichen Anteil an seiner Person, an dem, was er dachte und fühlte. Das war vollkommen neu für ihn. Wenn er sonst mit Leuten sprach, sahen sie in ihm den Journalisten, eine andere Existenz als diese berufliche, funktionale, schien er nicht zu haben. Manchmal dachte er, mit der Pensionierung würde er verschwinden, buchstäblich. Von anderen nicht einmal mehr gesehen werden, wenn er über den Marktplatz ging, mitten in der Stadt.
Im Gespräch kam sie auf ihren Vorschlag mit der Kartei, mit der Evaluierung, regelmäßigen Treffen.
»Hier?«, fragte er. »Sitzungen sind das dann wohl nicht. Wir können uns ja nicht hinsetzen.«
»Das ist kein Problem«, sagte sie. »Ich habe in der Nähe eine Riedhütte.«
»Mit Stromanschluss? Ich meine, wenn wir eine PowerPoint-Darstellung brauchen …«
»Nein, Sie missverstehen mich. Wir sitzen nicht in der Hütte, sondern an einem Tisch davor. Unter freiem Himmel. Das Femegericht tagt immer unter freiem Himmel.«
»Und es gibt auch keine PowerPoint-Präsentation«, sagte Nathanael Weiß. »Überhaupt keine elektronische Aufzeichnung.«
»Kein Computer? Wie soll das gehen? In jedem Fall sind doch Dutzende, manchmal Hunderte von Einzelheiten relevant, wie sollen wir die im Kopf behalten?«
»Gar nicht«, sagte die Frau. »Das ist es ja eben: All diese Einzelheiten sind relevant, wie Sie sagen, für moderne Rechtsprechung. Da türmen sich die Akten zu Gebirgen …«
»… oder verstopfen die Festplatten«, unterbrach Weiß. »Das ist alles Unsinn. Darum geht es nicht.«
»Worum es geht«, setzte die Frau fort, »ist eine einzige Frage: schuld oder nicht schuld? Und das wissen wir, oder? Wir wissen es, weil wir Dinge erfahren haben, gesehen, gehört, wie auch immer: mit den Sinnen wahrgenommen. Daraus entsteht unsere Überzeugung; sie wächst, sie gedeiht, sie wird reif …«
»Wie eine Pflanze …«
»Genau so ist es. Das andere ist mechanische Rechnerei, da geht es um Quantitäten. Wie viel Euro Geldstrafe, wie viel Jahre Gefängnis, es ist alles im Prinzip die Frage: Wie lang steht das Auto schon ohne Schein auf dem bewirtschafteten Parkplatz? Danach bemisst sich die Strafe.«
»Aber an solchen Fragen ist das Femegericht nicht interessiert«, sagte Nathanael. »Deshalb brauchen wir auch keineProtokolle und keine Akten. Die normalen Vergehen und Verbrechen – das ist Sache der normalen Behörden, Polizei, Gerichte. Wir verfolgen die Sonderverbrechen, die in dieser Gesellschaft nicht ausreichend oder nicht mehr verfolgt werden. Es gibt keine Aufzeichnungen, keine Computerfiles, die sich auf die Tätigkeit dieses Freistuhls beziehen …«
»Und wozu brauchen Sie dann mich?«
»Sie sind unser Korrektiv, der Dritte im Bunde, nennen Sie es, wie Sie wollen. Sie sollen uns davor bewahren, uns zu verrennen … in irgendeinen Blödsinn, verstehen Sie! Wenn wir zum Beispiel hinter einem Hühnerdieb her sind – und einen richtig dicken Fisch, einen Schädling allerersten Grades gar nicht wahrnehmen, weil er … Wie soll ich sagen …«
»… weil Sie nicht hinsehen«, vollendete Kranz den Satz. »Weil er von Ihrem Radar nicht erfasst wird
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