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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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heute früh aufgefallen, dieses Schottenmuster, hatte es etwas zu bedeuten, ein Signal von ihrer Seite, dass sie heute Interesse hätte … Ein aktuelles Signal, über dessen Signalcharakter kein Zweifel bestehen konnte, kam jetzt von ihr. Sie verspannte sich, zog sich ein wenig zurück.
    »Was ist?«, fragte sie. Leise Stimme, heiser und gedämpft; so klang sie, wenn sie Lust hatte. Er kannte den Tonfall, aber jetzt war da auch ein Unterton, etwas Spitzes, Aufmerksames.
    »Tut mir leid«, sagte er. »Ich weiß auch nicht …« Ihr Fuß rutschte an der Hose herab, sie stand wieder auf zwei Beinen, hielt etwas Abstand, damit sie ihn ansehen konnte, was im Dunkeln nicht möglich war, zog ihn dann an sich, seinen Kopf über die Schulter, nicht seinen Mund auf ihren. Schwesterlich. Verständnisvoll, ja, ja.
    »Das macht doch nichts«, sagte sie. Der spitze Unterton war weg, dafür ein neuer, den er an ihrer Stimme nicht kannte und nicht kennenlernen wollte. Macht doch nichts. Sie konnte schlecht lügen. Eigentlich überhaupt nicht. Wenn sie jemals seiner Frau begegnen sollte, wäre die Affäre in zwei Minuten am Licht. Er durfte ihr nichts sagen. Peinlicher als das Versagen war die Unmöglichkeit, etwas zu erklären. Denn jetzt wäre die Reihe an ihm gewesen, mit Erklärungen anzuheben. Die Frau sagt: Das macht doch nichts. Was sonst soll sie sagen? Der Satz ist kanonisch. Die abendländische Kultur schreibt das so vor, dachte er, vom Nordkap bis Sizilien und in ganz Amerika.
    Das macht doch nichts.
    Und dann muss der Mann sprechen. Was er da spricht, unterscheidet sich vom Nordkap bis Sizilien, und in Amerika ist es noch einmal ganz anders, aber er spricht. Vom Gemurmel bis zur mehrseitigen Suada, der Mann spricht, wenn er nichttun kann, was er soll. Wenigstens erklären, warum. Darauf hat die abendländische Frau ein Anrecht. Aber Dipl.-Ing. Anton Galba konnte nichts sagen. Er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Jeder Anfang führte innerhalb weniger Sätze auf verbotenes Terrain. Also musste sie jetzt weiterreden.
    »Was ist mit dir?«
    »Ich weiß nicht …«
    »Hast du Stress daheim?«
    »Na ja …«
    »Erzähl doch! Bitte, ich muss das wissen.« Sie zog sich den Pullover herunter und schlüpfte in die Sandalen. Stress daheim war ein Ausweg von wunderbarer Breite und Geradlinigkeit, kein Weg mehr, fast schon eine ansehnliche Forststraße mit gewalztem Kies, ohne Schlaglöcher und schlammige Stellen. Da konnte er mit langen Schritten wandern. Sogar ihm, dem phantasielosen Menschen, als den er sich sah, gelang es, aus dem mit Stress daheim betitelten Fass zu schöpfen; es lief fast über, dieses Fass, so voll war es. Die Frau, die Kinder, das Haus. Die Frau ist unzufrieden wegen allem und jedem, die Kinder haben Probleme in der Schule, dem Haus drohen Renovierungskosten wegen … wegen einer fehlerhaften Anschlussisolierung. Er hatte keine Ahnung, was man sich unter einer Anschlussisolierung vorzustellen habe, Nachfrage von Helga blieb aus. Sie hatte einen technischen Hintergrund, aber begriff, dass bei der Erklärung dieses Fachbegriffs sich eine geradezu lebensbedrohende Langeweile ausbreiten würde … Es käme eben manchmal alles zusammen, sagte er dann noch. Helga Sieber war mit der Erklärung zufrieden und versuchte ihn zu trösten.
    Impotenz hat größtenteils psychische Ursachen.
    Diesem Satz konnte keine Frau entgehen, die jemals beim Friseur eine der dort aufliegenden Illustrierten aufgeschlagenhatte; auch Helga Sieber war davon überzeugt, es war ein kanonischer Satz, zu dem es zahlreiche gelehrte, populäre und schwachsinnige Kommentare gab, wie es bei kanonischen Texten üblich ist. Von den seelischen Ursachen hätte einen Mann nur eine durch fachärztliches Attest beurkundete Kastration befreit. Jeden Mann, nicht nur Anton Galba. In meinem Fall, dachte er, stimmt es sogar, das mit den seelischen Ursachen. Es würde ihm auch helfen, »darüber« zu reden, sich »mit den Ursachen auseinanderzusetzen«, keine Frage – aber genau dies würde ihn ins Gefängnis bringen. Er hatte keine Wahl. Seine Kinder brauchten ihn noch. Mit der Wahrheit würde die soziale Vernichtung kommen, eben nicht der Tod, sondern die soziale Vernichtung – da, stellte er sich vor, ist man auch tot, kann aber zuschauen, wie einen die anderen für tot halten und als Toten behandeln. Das war keine Option.
    Sie trennten sich an diesem Abend nach dem Austausch leidenschaftlicher Küsse, die in den entscheidenden Organen keine adäquate

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