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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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entfernt von der Beethovengasse. Er kannte die Gegend an der Ach wie jeder Dornbirner. Im Wald gab es Spazierwege und Joggingstrecken, an schönen Sommersamstagen herrschte hier mehr Betrieb als in der Innenstadt. Es war nicht möglich, in dem Gebiet ungesehen von A nach B zu kommen, aber, so hoffte er, unerkannt schon. Er schloss den Wagen ab und zog sich die dunkelblaue Baseballmützetief ins Gesicht. Dann ging er auf sein Ziel zu. Mit langen, federnden Schritten, wie es Jogger, die gehen, zu tun pflegen. Er war ein gutes Stück schneller als ein Spaziergänger.
    Unterwegs überlegte er, was er tun würde. Das hatte er bis jetzt unterlassen. Die Vorbereitungen, die Adjustierung, das Hinfahren hatten ihn in jenen Zustand versetzt, der ihn vor einer großen Jagd befiel. Eine Art gespannter Ruhe, in Richtung hypnotisches Wachsein, nicht ganz rational, aber reaktionsschnell wie ein Tier. Er genoss es. Er war zu diesen Gelegenheiten mehr er selbst als beim Brüten über Geschäftsabrechnungen. Der Vorteil lag darin, dass keine Emotionen damit verbunden waren, überhaupt keine. Das hatte er sonst nicht. Da war alles mit Gefühlen zugepflastert, gegen die er sich nicht wehren konnte – nur hoffen, dass die sehr unangenehmen durch weniger unangenehme abgelöst wurden, positive gab es kaum, und wenn, hielten sie auch nicht lang. Seine Umwelt rief diese Gefühlsreihe hervor, eines nach dem anderen, am schlimmsten war die Wut. Du regst dich gern auf, sagten die Jagdgenossen und meinten, wie er wohl wusste: Du genießt es, wütend zu sein. Das war nicht wahr. Das Gefühl hilfloser Wut war das schlimmste, am schlechtesten auszuhaltende. Er konnte es nur abbrechen, wenn er zuschlug. Die Gefühle, die dann kamen, waren auch nicht schön, aber besser als die Wut.
    Jetzt fühlte er gar nichts. Keine Angst, keine Erwartung, keine Freude, nur eine große innere Ruhe, wenn das denn ein Gefühl genannt werden durfte. Er ließ das Nachdenken über die nächste Zukunft sein. Er würde dort ankommen, sehen und handeln, wie es die Lage erforderte.
    Nach einer guten Viertelstunde war er dort. Begegnet war ihm niemand, die Maskerade hätte er sich sparen können. So war es aber besser. Auf alles gefasst sein.
    Die Beethovengasse zweigte wie eine Reihe parallel verlaufender Komponistenstraßen von der Kernstockstraße ab auf den Wald zu, wo sie an einem Bach endete, alles Sackgassen, schmale Zufahrten für die Einfamilienhäuser, die hier standen, alles verkehrsberuhigt. Vielleicht hätte Beethoven die Lage geschätzt. (Er war natürlich ebenso wenig jemals in Dornbirn gewesen wie die Kollegen Lortzing, Bruckner und Wagner.)
    Gerhard Hopfners Ziel war nicht das Haus Beethovengasse 20, das letzte einer Reihe neuer Einfamilienhäuser, sondern eine Fußgängerbrücke über den Bach hundert Meter weiter unten. Dort führte ein Fußweg hinüber. Er zog die Gummistiefel an, verstaute die Laufschuhe in der Tasche und stieg neben der Brücke in den Graben hinunter ins Wasser. Das Bächlein war einen Meter breit und jetzt im Spätsommer nur noch fünf Zentimeter tief, das würde genügen, seine Spuren auf dem schlammigen Boden zu verwischen. Der Graben war tief, Weiden- und Schwarzerlengebüsch auf beiden Seiten, er war unsichtbar vom Wald wie von den Grundstücken her, die sich am Bach aneinanderreihten. Über ihm glänzten die Baumwipfel im Mondlicht, im Bach war es so finster, dass er sich nur Schritt für Schritt vorantasten konnte, zu sehen gab es nichts, kein Problem für Gerhard Hopfner, der auf Jagden bei Nachsuchen weit gefährlichere Strecken hatte hinter sich bringen müssen. Er wusste sich zu orientieren. Die richtige Stelle, den Bach zu verlassen und die linke Böschung zu erklimmen, fand er auf Anhieb. Dort oben gab es Zäune verschiedener Machart und Höhe, aus Maschendraht, Pfosten, Brettern oder Hecken, das Weiß’sche Anwesen war durch einen mannshohen lebenden Zaun zur Bachseite hin abgegrenzt; Liguster, der aber an manchen Stellen bedenkliche Lücken aufwies, Zeichen gärtnerischer Verwahrlosung. Solche mannigfachen Zeichen, von Verwahrlosung nämlich, hätteGerhard Hopfner bei Tageslicht auch innerhalb des Zauns auf dem Grundstück und am Hause selbst feststellen können. Die hohen Bäume des Nachbargartens schatteten das Licht des untergehenden Halbmonds ab, so dass er diese Zeichen nicht erkennen konnte, ein Rasen von unregelmäßigem Schnitt und zweifelhafter Nährstoffversorgung, verwaiste Blumenbeete. Und das Haus. Gerhard

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