Alles Fleisch ist Gras
selbst. Immer nur Verwandte seiner Frau oder Parteifreunde. Beweisen davon konnte Ingomar Kranz nichts, er hatte auch nie versucht, einen Fall Karasek aufzubauen, das war aussichtslos, wie er wohl wusste; der Stadtrat war ihm nur bei anderen Recherchen aufgefallen, als unbescholtene und nicht zu scheltende Nebenfigur. Was er über ihn wusste, kam aus der städtischen Gerüchteküche. Denn auch Ingomar verkehrte im Kronenstüble und erfuhr unter der Hand manches, was nie an die Öffentlichkeit kam. Außerdem war er Mitglied im Tennis- und Fußballverein, bei den Reitern (seine Tochter hatte ein Pferd) und im Industrieclub , einer Vereinigung, der auch Nichtindustrielle angehören durften, sofern sie etwas für die Belange der Industrie übrighatten; Ingomar hatte sich durch zahlreiche einschlägige Reportagen empfohlen. Er sah seine Mitgliedschaften als berufliche Hilfsmittel, um an Geschichten zu kommen.
Und er kam an Geschichten.
Ingomar Kranz hatte vieles über den Stadtrat Karasek erfahren. Je mehr es wurde, desto mehr hasste er ihn. Nicht wegen der persönlichen Unmoral, die eben in diesem speziellen Fall nicht so schwer wog wie bei anderen Personen; es ging Kranz um das Prinzip, das Karasek in reinerer Form verkörperte als jeder andere Politiker: der unverhohlene Nepotismus, der sich nicht einmal unter Sachzwängen tarnte, sondern als Ausdruck eines naiven feudalen Selbstverständnisses daherkam; Karasek hatte bei allem, was er tat, nicht das mindeste Unrechtsbewusstsein, er war gleichsam der Herr Graf, der seinen Clan bevorzugte. Das war, fand Kranz, schlimmerals die Durchstechereien anderer Kameraden, die wenigstens wussten, dass sie nicht legal unterwegs waren. Für das demokratische Prinzip war Karasek die größere Gefahr.
Den Kollegen fehlte dafür jedes Gespür. »Du verrennst dich da in was«, sagten sie zu ihm, »das bringt doch nichts, der Karasek ist doch eine Nummer zu klein!« Er sagte dann: »Vielleicht hast du recht …« oder »Kann auch sein …«, er wusste, insistieren war kontraproduktiv – denn die Kollegen waren – er gab das ungern vor sich selber zu – ein bisschen blöd, alle miteinander. Es fehlten ihnen die geistigen Voraussetzungen, gewisse grundlegende Zusammenhänge zu begreifen; Voraussetzungen eben, die er selber sich durch ein zehnsemestriges Soziologiestudium an der Universität Innsbruck angeeignet hatte. (Ohne Abschluss, das erste Kind unterwegs, der Radiojob hatte die finanzielle Misere beendet.) Um zu begreifen, dass Stadtrat Karasek die Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung untergrub, hätte es keines Studiums, geschweige denn eines Magistertitels bedürfen sollen, fand Ingomar; dies hätte jedem gewöhnlichen Brotesser nach zwei Minuten ruhigen Nachdenkens klar sein sollen. Aber so war es eben nicht. So klar waren die Köpfe nicht, die ihn umgaben. Sie bewunderten Karasek, darin lag das Problem. Sie wären gern selber in den Genuss seiner Wohltaten gekommen, sie fanden in Ordnung, was er tat.
Sie lebten im Feudalismus, noch oder schon wieder, das war die bittere Wahrheit.
Jeder Gedankengang, den er irgendwo begann, endete an diesem einen Punkt, mit immer derselben Schlussfolgerung: Die Welt wäre ohne den Stadtrat Karasek ein besserer Ort. Eben nicht, weil der so böse, sondern weil er so typisch war.
Über dem Sinnieren hatte er vergessen, wie er auf all dies gekommen war. Der verrückte Ingenieur. Beginnende Paranoia.Bei manchen, hatte er anlässlich einer Psychiatriereportage erfahren, fängt es ganz plötzlich an, gleichsam vom einen Tag auf den anderen, jedenfalls nach außen … So eine Fleischmühle gab es nicht. Und wenn es sie gab, wurden keine Leute reingeworfen. Nicht in dieser Stadt. Ja, in Drittweltländern mochte so etwas vorkommen; vielleicht war Galba durch einen Fernsehbericht darauf gestoßen oder er hatte etwas gelesen. Massaker, unbeschreibliche Greuel, die trotz ihrer Unbeschreiblichkeit dann doch irgendwo im Netz in allen Details beschrieben werden. Das hatte Galba auf sich bezogen, drum hieß es ja auch Beziehungswahn, und den Häcksler aus dem Herz der Finsternis hatte er ins schöne Dornbirn versetzt. Die ganze Aktion war vergeblich wie so viele andere Aktionen. Ein Hinweis von einem Irren. Typische Zeitvergeudung.
Ingomar Kranz seufzte so laut, das man es am nächsten Tisch gehört hätte. Aber dort saß niemand. Auch nicht an anderen Tischen in der Nähe. Er winkte der Bedienung. So ist es immer, dachte er. In der Nähe ist
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