Alles Fleisch ist Gras
schon, aber nicht, weil dadurch das Recht, sondern weil eine Art Symmetrie verletzt wurde; es handelte sich um eine neurotische Fixierung auf geordnete Zustände. So hatte es vor Jahren der Gesprächstherapeut genannt – bei ihm, hatte der gemeint, sei es so ähnlich wie bei den Leuten, die in ein fremdes Haus kommen und ein schief hängendes Bild geraderücken; sie können es einfach nicht so lassen, wie es ist, sie folgen einem inneren Zwang. Ingomar Kranz konnte das nicht bestreiten, er verstand nur nicht, worin das Krankhafte liegen sollte, verrückt oder zumindest deviant war doch, das Bild jahrelang schief hängen zu lassen! Prekär wurde es, wenn es nicht um schiefe Bilder ging, sondern um krumme Geschäfte. Ingomar Kranz sah es als seine journalistische Aufgabe, solche Geschäfte öffentlich zu machen. Sogar die, die ihn nicht mochten, und das waren viele, gaben zu, dass ihm das gut gelang. Nicht immer, aber doch so häufig, dass er sich den Ruf eines Aufdeckers erworben hatte; in dem Rahmen freilich, den die Provinz zuließ. Die Summen waren nicht wie die, von denen man im Spiegel las, die Konstruktionen nicht so gefinkelt, es ging auch nicht um Weltkonzerne, die ihre Mitarbeiter ausspionierten, sondern zum Beispiel um merkwürdige Änderungen von Flächenwidmungsplänen – allein dieser Punkt hatte Ingomar Kranz bei den Bürgermeistern der Region verhasst gemacht.
Er misstraute der politischen Klasse und sah sich als Anwalt des kleinen Mannes und der kleinen Frau, denen mit übermäßigen Steuern das Geld aus der Tasche gezogen wurde, während es sich die Schlauen richten konnten. Diese Überzeugung vertrat er im Kollegenkreis oft und eifrig, und niemand konnte etwas dagegen sagen, außerdem waren seine Fernsehbeiträge immer gut recherchiert, hervorragend gestaltet und unangreifbar. Infolgedessen erfreute sich Ingomar Kranz beim örtlichen Sender einer nicht mehr steigerbaren Unbeliebtheit.
Sie nannten ihn Apostel , eine Verkürzung von Moralapostel , das sich im täglichen Gebrauch als zu lang erwiesen hatte. Der Ausdruck sollte auf die tiefe Heuchelei anspielen, die nach Ansicht der Kollegen seinem Verhalten zugrunde lag, aber sie irrten sich. Kranz war kein Heuchler. In seinem immer noch katholisch geprägten Umfeld fiel ihnen nur keine andere Sünde ein als die Heuchelei, wenn sie das, was an ihm störte, benennen sollten.
Denn für das, was an Ingomar Kranz nicht in Ordnung war, gab es im katholischen Universum keinen Begriff. Heuchelei war es jedenfalls nicht. Wie er sich in manche Sachverhalte verbohrte, oft halbe Nächte im Büro blieb (was auf Grund diverser Sparmaßnahmen nicht einmal Überstunden einbrachte), die Art, wie er manche Politiker geradezu verfolgte – über Jahre hinweg –, das alles hatte etwas Krankes. Darüber herrschte Konsens.
Kranz war zweimal geschieden und hatte einen Sohn aus erster und eine Tochter aus zweiter Ehe. Seine Exfrauen und die Kinder kannten sich und pflegten freundschaftliche Verhältnisse untereinander. Nur zu Ingomar nicht. Seine zweite Frau bewohnte das Stadtrandeinfamilienhaus, das ihr bei der Scheidung zugesprochen worden war; Ingomar Kranz war ineine Dreizimmerwohnung in einem zentralen Wohnblock hinter dem Rathaus gezogen. So hatte er die Quelle seines Missvergnügens schon vor Augen, wenn er beim Frühstück aus dem Küchenfenster blickte. Die Rathausnähe war ihm erst beim Einzug recht bewusst geworden, er fand heraus, dass er Karasek ins Bürofenster schauen konnte. Manchmal ging Karasek sogar durchs Bild, ein dicklicher Mann mit Halbglatze, der Jovialität und Freundlichkeit gegen jedermann abstrahlte wie eine Zweihundert-Watt-Birne das Licht. Ingomar kaufte sich in der ersten Woche in der neuen Wohnung ein japanisches 10 x 50-Glas und beobachtete an manchen Vormittagen die hintere Rathausfront über den Stadtpark hinweg. Er saß dabei an der Frühstückstheke des großen Hauptwohnraums mit integrierter Küche und blickte durch das Panoramafenster auf Stadtpark und Rathaus. Die Frühstückstheke gab genau die Erhöhung, die dazu nötig war, er hatte Kaffee und Semmel vor sich, daneben das Fernglas, und konnte Karasek beim Regieren zusehen. Das befriedigte ihn. Denn die Theke war für einen alleinstehenden Herrn nicht das Wahre: Zwei kleine Kinder und eine sehr nette, sehr blonde, aber moderne Hausfrau hätten dazugepasst wie auf den Werbebildern, mit denen die Baufirmen das Glück der Bewohner ihrer Häuser darzustellen pflegten. Das Glück in
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