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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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der Küche. Dieses Glück hätte ein Frühstückstisch mit rundherum drapierter Familie wohl auch darstellen können; die Sache schlug nur ins Gegenteil um, wenn statt der modernen Familie ein frisch geschiedener Mann daran saß. Er wurde zum Symbol der Einsamkeit und des Unglücks mit seinem einzelnen Teller und der einzelnen Semmel darauf. Es sei denn, es ging hier gar nicht um einsames Frühstück, sondern um Beobachtung, worauf das Fernglas wies: Beobachtung ist immer einsam, das gehört dazu. Das Fehlen der Familie fiel in dem Bild nicht auf, imGegenteil: Eine Familie hätte bloß gestört. Weil die Menschen in den Bildern leben, die sie nach außen abgeben, wusste auch Ingomar Kranz um diese Zusammenhänge – das Fernglas und die nahe Ferne (oder ferne Nähe) des Stadtrats Karasek ließen ihn die Viertelstunden am Vormittag überstehen, wenn er frühstückte, frühstücken musste, er hielt es sonst nicht aus bis zum Mittagessen. Viele Männer in seiner Lage verzichteten auf das Frühstück, würgten auf der Fahrt zur Arbeit ein Brötchen runter, nachdem sie sich zu Hause einen schnellen Kaffee im Stehen einverleibt hatten; die Gefahr lag im Hinsetzen zum Frühstück, zum Frühstück allein . Die Depressionen, das Abrutschen, das Trinken – alles fing mit dem Frühstück allein an.
    Ingomar Kranz hatte es gut, er setzte sich nur an die idiotische Theke, wenn er Karasek schon in seinem Büro entdeckt hatte. Karasek rettete ihn vor der Depression, anders ließ es sich nicht sagen, er wusste es selbst. Er hätte Karasek dankbar sein müssen, umso merkwürdiger war, dass ihre Verbindung auf reinem, weißglühendem Hass beruhte.
    Ingomar Kranz hasste den Stadtrat Karasek.
    Dieser Hass war im Laufe der Jahre gewachsen, hatte sich von einem Allerweltsgefühl gewöhnlicher Antipathie zum jetzigen Ausmaß gesteigert, pathologische Intensität angenommen. Daran war Karasek nicht ganz unschuldig. Er verkörperte alle Eigenschaften, die Ingomar Kranz an den hiesigen Politikern verabscheute, in ihrer reinen Form. Er war korrupt und verlogen. Kranz musste vor sich selber zugeben, dass der Stadtrat nicht korrupter war als andere in seiner Stellung, objektiv betrachtet, gingen seine Verfehlungen nicht über die Bevorzugung des einen oder anderen Mitglieds seiner weitläufigen Verwandtschaft hinaus. Ja, man musste ihm sogar zugestehen, dass ihm als Zugereistem, Ehemann einerhiesigen Textildynastieerbin und politisch aufgestiegenem Individuum gar nichts anderes übrigblieb, als diese Leute zu protegieren; seine eigene Verwandtschaft lebte weit im Osten der Republik und trat nie in Erscheinung. Karasek saß in vielen Ausschüssen, als Stadtrat hatte er die Kommunalplanung unter sich und das Finanzressort. Natürlich konnte ihm nie jemand etwas nachweisen. Hätte man zum Beispiel die neue Sporthalle an den äußersten Stadtrand bauen sollen, wo Fuchs und Hase einander gute Nacht sagten – nur, weil ein zentrales und gar nicht einmal so teures Grundstück seinem Schwager gehörte? Der durch den Verkaufserlös in die Lage versetzt wurde, das schon in dritter Generation betriebene, leider in finanzielle Schieflage geratene Möbelhaus zu retten. Und dazu vierundzwanzig Arbeitsplätze! Der Schwager war ein Idiot, keine Frage. Man sah es schon daran, dass er nach dem Grundstücksverkauf das Geld in ebendieses Möbelhaus steckte, statt es an eine Immobilienfirma zu verscherbeln, womit er alle Lügen strafte, die im hiesigen Patriziat eine kaltherzige Bande geldgeiler Geizhälse sahen. Das traf nicht für alle zu. Ingomar Kranz musste sich eingestehen, dass die illegale Aktion des Stadtrats Karasek, den Kauf des Riesenareals seinem Schwager zuzuschanzen, zu einem Segen für die Stadt geworden war.
    Er hasste ihn trotzdem.
    Weil er sich seiner Taten nicht nur nicht schämte, sondern sich ihrer brüstete. Stadtrat Karasek war ein leutseliger Mensch, er saß oft im Kronenstüble und redete dort mehr, als dies ein anderer getan hätte. Aber die dort um ihn herumsaßen, bewunderten ihn dafür. Für sie hatte er das Herz auf dem rechten Fleck. Es war auch kein Geheimnis, dass er das volle Vertrauen des Bürgermeisters besaß und, wenn nichts Außerordentliches dazwischenkam, in fünf Jahren dessen Sesselübernehmen würde. Der Bürgermeister war der einzige lokale Politiker, der noch populärer war als Karasek.
    Die Sache mit dem Schwager war nicht die einzige dieser Art, es gab andere Bevorzugungen – niemals betrafen sie aber Karasek

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