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Alles Glück kommt nie

Titel: Alles Glück kommt nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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er, »aber sie ist tot, Alter! Sie ist tot! Und soll ich dir mal was sagen? Ob sie hier liegt oder da, ich glaube, das geht ihr am Arsch vorbei ...«
     
    Das war ihm natürlich klar. Er war der Rationalere von beiden. Der Methodische, der Mathematiker, der gute Schüler, der bis oben Zugeknöpfte, der Klassensprecher, derjenige, der brav ins Röhrchen blies, der ... Heute nicht. Heute war etwas in ihm heiß gelaufen, und er konnte zu seiner Verteidigung nur stammeln: »Du kannst sie da nicht lassen. Die Gegend dort hat alles, was sie immer gehasst hat. Die Pampa, die Sozialwohnungen, den Rassismus. Dem wollte sie immer entkom–«
    »Was faselst du da von – von Rassismus?«
    »Ihr Nachbar –«
    »Welcher Nachbar?«
    »Der im Grab neben ihr ...«
    Verblüffte Stille.
    »Sekunde mal, ich spreche doch mit Charles Balanda, oder? Dem Sohn von Mado und Henri Balanda?«
    »Alex, bitte –«
    »Nee, wirklich, was redest du da für dummes Zeug? Also mal im Ernst. Tickst du noch richtig? Alles noch heil in deinem Oberstübchen? Du hast nicht vielleicht zwischendurch vergessen, deinen Helm aufzusetzen?«
    »...«
    »Hallo?«
    »Und dann noch die Deponie –«
    »Ich komm gleich!«, rief er über den Hörer, »fangt ohne mich an! Was für eine Deponie, Charles? Was für ...?«
    Ja.«
    »Nach dieser langen Zeit, Charles, muss ich dir etwas Wichtiges gestehen.«
    »Ich höre.«
    Er – hmm – räusperte sich feierlich.
    Charles hielt sich das andere Ohr zu.
    »Wenn jemand tot ist, weißt du, tja, dann kriegt er nichts mehr mit ...«
    Der Arsch. Einen auf großes Geständnis machen, um ihn dann komplett zu veralbern. Das war typisch er.
    Er legte auf.
    War noch nicht auf der Gangway, als er den Abgrund unter seinen Füßen spürte: Er hatte vergessen, ihn nach dem Allerwichtigsten zu fragen.
     
    *
     
    Man reichte ihm einen Champagner, mit dem er gleich eineinhalb Schlaftabletten schluckte. Ein wirklich bescheuerter Cocktail, dessen war er sich voll bewusst, aber auf eine Dummheit mehr oder weniger kam es jetzt nicht mehr an.
    Seit mehreren Wochen war sein Leben eine Aneinanderreihung unerwünschter Nebeneffekte, und die »Kiste« hatte trotzdem gehalten, dann ... Bestenfalls würde er in wenigen Minuten zusammenbrechen, schlimmstenfalls das Klo umarmen.
    Ja, alles auskotzen, das wäre tatsächlich nicht schlecht.
    Dann köpfte er ein weiteres Fläschchen.
     
    Als er seine Akten herausholte, rutschte der Briefumschlag seiner Eltern unter den Sitz. Sehr gut. Dort konnte er bleiben. Charles hatte für heute sein Fett weg. Lächerlichkeit tötet nicht, stimmt schon, aber es gab auch Zeiten, wo es gesünder war, Gas zu geben. Er ertrug es nicht mehr, der Mann zu sein, zu dem er sich entwickelt hatte: willfährig.
    Okay, okay. Weg damit. Die Erinnerungen, die Schwäche und die Klagelaute. Luft bitte!
    Er löste seine Krawatte und öffnete den Kragen.
    Vergeblich.
    Denn er befand sich, was er sich nicht klarmachte, in einer Kapsel mit Druckausgleich.
     
    Als er wieder zu sich kam, hatte er so viel Speichel abgesondert, dass seine Jacke an der Schulter ganz nass war. Er sah auf die Uhr und glaubte seiner Lexomil nicht: Er hatte nur eineinviertel Stunden geschlafen.
    Fünfundsiebzig Minuten Erholung. Mehr war ihm nicht vergönnt.
     
    Seine Nachbarin trug eine Schlafmaske. Er knipste das Lämpchen auf seiner Seite an, verrenkte sich, um den Briefumschlag unter dem Sitz hervorzufischen, lächelte beim Anblick der herrlichen Unterarmtätowierungen, kleine Seemänner, fragte sich, wer sie ihnen beiden wohl aufgemalt hatte, schloss die Augen. Ja doch, seine Mutter hatte recht gehabt. Das war er gewesen, dieser schmächtige Kerl mit den gefärbten Haaren. Er suchte sein Gesicht, seinen Namen, seine Stimme, fand ihn vor dem Schultor und ging zurück auf Los.
    Wir auch.

Teil 2

1
    Ist es die 6A?«
    »Ja.«
    »Was hat denn der Typ?«
    »Keine Ahnung, einen Nervenzusammenbruch. Hast du noch Eiswürfel?«, fragte sie ihre Kollegin, die auf der anderen Seite des Wägelchens geduldig wartete.
     
    Irgendwo über dem Ozean hatte ein Passagier seinen Sicherheitsgurt gelöst.
    Schluchzte und versteckte sich hinter beiden Händen. » Are you all right? «, fragte seine Nachbarin.
    Er hörte sie nicht, war von seinen Gefühlen übermannt, kämpfte mit seinen eigenen Turbulenzen, stand auf, stieg über sie hinweg, hielt sich an den Kopfstützen fest, schlüpfte durch den Vorhang, entdeckte eine freie Reihe und ließ sich darauf fallen.
    Ende der

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