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Alles Glück kommt nie

Titel: Alles Glück kommt nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Business-Class.
    Schmiegte sich an das Fenster, das sogleich beschlug.
     
    Man schickte ihm einen Steward. »Brauchen Sie einen Arzt?« Charles hob den Kopf, versuchte ein Lächeln und zückte seine verfluchte Geheimwaffe: »Ich bin nur müde.«
    Der andere war beruhigt, und man ließ ihn in Frieden. Selten war ein Ausdruck so unangebracht.
    In Frieden? Wann hatte er je seinen Frieden gehabt?
    Das letzte Mal mit sechseinhalb, da lief er mit seinem neuen Freund durch die Rue Berthelot.
    Einem Jungen aus seiner Klasse mit Namen Le Men, der gerade neben ihm eingezogen war. Er war ihm gleich am ersten Tag aufgefallen, weil er einen Hausschlüssel um den Hals trug.
    Das war damals was, den Hausschlüssel um den Hals zu tragen. Das machte einen in der Pause zum Mann.
     
    Der Junge war schon mehrmals am Nachmittag bei Charles gewesen, aber heute war Charles an der Reihe, und Alexis sagte, als sie die Schuhe auszogen: »Wir dürfen keinen Krach machen, damit du’s weißt, meine Mutter schläft nämlich.«
    »Ach?«
    Charles war beeindruckt. Konnte eine Mama am Nachmittag schlafen?
    »Ist sie krank?«, fragte er ganz leise.
    »Nein, sie ist Krankenschwester, und weil sie morgens ganz früh los muss, macht sie oft Mittagsschlaf. Siehst du? Die Tür zum Schlafzimmer ist zu. Das ist unser Code.«
     
    Alles kam ihm wahnsinnig romantisch vor. Es war ein Spiel. Ihre kleinen Autos so zu bewegen, dass sie nicht gegeneinander knallten, zu flüstern, wenn sie sich am Ärmel zogen, und sich ihre Scheibe Honigkuchen selbst abzuschneiden.
     
    Sie beide, allein auf der Welt, wie sie beim leisesten Zischen der Limonade zusammenzuckten.
     
    Ja, der Frieden war schon damals nicht mehr so selbstverständlich, denn jedes Mal, wenn er an der Tür vorbeikam, spürte er, wie sein Herz schlug.
    Ein bisschen.
    Als würde sich dahinter Dornröschen oder eine andere extrem müde, verwunschene, vielleicht auch entstellte Prinzessin verbergen. Er lief auf Zehenspitzen, hielt die Luft an und achtete auf die Dielen, um nicht zu stolpern, bis er das Zimmer seines Freundes erreicht hatte.
    Der Flur war eine Hängebrücke, darunter schwammen Krokodile.
     
    Er war noch öfter zu Besuch, und die geschlossene Tür faszinierte ihn jedes Mal.
    Er fragte sich, ob sie nicht in Wirklichkeit tot war. Vielleicht log Alexis. Vielleicht lebte er die ganze Zeit allein und ernährte sich von Kuchen.
    Vielleicht war sie wie eine dieser Figuren in ihren Geschichtsbüchern?
    Von einem festen Schleier bedeckt, und auf der anderen Seite schauten die Füße heraus?
     
    Aber nein, das konnte nicht sein, denn der Küchentisch war immer unordentlich. Kaffeebecher und halbfertige Kreuzworträtsel, Haare, die in einer Haarspange festhingen, Orangenschalen, zerrissene Briefumschläge und Krümel ...
    Und Charles sah zu, wie Alexis alles saubermachte, als wäre es das Natürlichste auf der Welt, die Aschenbecher seiner Mama zu leeren und ihre Pullover zusammenzulegen.
    Sein Freund war dann nicht mehr derselbe Junge, den die Lehrerin vor ein paar Stunden in die Ecke gestellt hatte. Es war ...
    Es war eigenartig. Sogar sein Gesicht veränderte sich. Er hielt sich gerader und zählte stirnrunzelnd die Zigarettenstummel.
    An jenem Tag hatte er beispielsweise den Kopf geschüttelt und die Stille unterbrochen: »Iiih – wie eklig.«
    Drei Kippen steckten in einem Joghurt, den sie kaum angerührt hatte.
    »Wenn du willst«, fügte er betreten hinzu, »ich habe eine neue Mütze. Von Mammut. Sie liegt auf meinem Nachttisch.« Charles zog die Schuhe aus und ging auf Expedition.
     
    Oh, oh! Die Tür stand sperrangelweit offen. Auf dem Hinweg sah er weg, aber auf dem Rückweg konnte er sich nicht beherrschen und riskierte einen Blick.
    Die Bettdecke war ein wenig verrutscht, und man sah ihreSchultern. Und sogar den halben Rücken. Er erstarrte. Ihre Haut so weiß, ihre Haare so lang ...
    Er sollte weitergehen, er musste weitergehen, er wollte weitergehen, als sie die Augen aufschlug.
    Wie schön sie war. Schön wie in den Büchern im Religionsunterricht. Still und reglos, aber mit einer Art Licht um den ganzen Körper.
    »He! Hallo, du«, sagte sie und richtete sich leicht auf, stützte eine Hand in den Nacken.
     
    »Du bist Charles, stimmt’s?«
    Er konnte nicht antworten, denn man sah ein Stück von ihrem ... vielmehr von ihren ...
    Er konnte nicht antworten und stürzte davon.
    »Was hast du vor? Gehst du?«
    »Ja«, stotterte Charles, der sich über die Lasche in seinen Schuhen

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