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Alles Glück kommt nie

Titel: Alles Glück kommt nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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ärgerte, »ich muss noch Hausaufgaben machen.«
    »He!«, rief Alexis, »morgen ist doch schulfr...«
    Die Tür war schon ins Schloss gefallen.

2
    Vergessen wir die Sache mit dem gestohlenen oder dem verfluchten Frieden. Eine Beteuerung, die reichlich übertrieben daherkommt, um ehrlich zu sein. Natürlich hatte sich Charles, kaum war er auf der Straße, hingekniet, seine Schuhe richtig angezogen, die große Schlinge durch die kleine gezogen und sich auf den Weg gemacht.
    Natürlich.
    Übrigens lächelte er gerade darüber. Von wegen kleiner Heiliger ...
    Er amüsierte sich über den kleinen Jungen, der er damals war, erleuchtet und auserwählt, und doch ratlos. Ja, ratlos. Da lebte er umgeben von Mädchen, hätte aber nie gedacht, dass sich die Farbe zum Ende hin ändern könnte.
     
    Nein, er hatte seinen Frieden nicht eingebüßt, hatte nur eine Art Unruhe gewonnen, eine Erregung, die mit ihm und seinen Hosen größer werden sollte. Die seine Schürfwunden bedeckten, seine Hüften umschlossen und nach unten hin weiter wurden. Sie würden vom Bügeleisen seiner Mutter geplättet und vom Schönheitsempfinden seines Vaters missbilligt. Würden später ausfransen. Zur Kugel zusammengerollt und mit Flecken übersät. Würden dann an Reife gewinnen, auch an Qualität, eine tadellose Falte haben, auch Aufschläge, würden eine chemische Reinigung erfordern und zerknittert im Kies eines dubiosen Friedhofs enden.
     
    Er hielt seine Akte schräg vor sich und dankte dem Himmel.
    Schließlich war es auch ein Glück, in einem Flieger zu sitzen. So hoch zu fliegen, champagnerverwöhnt und nüchtern zu sein, sie wiedergefunden zu haben, sich an Nounous Dufteiner Dame von Welt zu erinnern, die beiden gekannt zu haben, von ihnen geliebt worden zu sein und sich davon nie wieder erholt zu haben.
     
    Damals war Anouk für ihn eine richtige Dame, aber heute weiß er, dass es nicht so war. Heute weiß er, dass sie fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig gewesen sein musste, und die Sache mit dem Alter – die sie so sehr verfolgt hatte – gab ihm schließlich recht: Es hatte nie die geringste Rolle gespielt.
    Anouk hatte kein Alter, sie passte in keine Schublade und sträubte sich viel zu sehr, um sich einfangen zu lassen.
    Sie benahm sich häufig wie ein Kind. Rollte sich inmitten ihrer Metallbaukästen zu einer Kugel zusammen, schlief bei der Durchfahrt eines Güterzugs ein. Schmollte, wenn es Zeit für die Hausaufgaben war, kopierte die Unterschrift ihres Sohns, formulierte flehentliche Entschuldigungen, brachte es fertig, tagelang kein Wort zu sagen, verliebte sich wahllos, verbrachte die Abende vor dem Telefon, das sie mit finsteren Blicken fixierte in der Hoffnung, es möge klingeln, ging ihnen auf die Nerven mit der Frage, ob sie sie schön fänden, also wirklich schön, und pflaumte sie am Ende an, wenn nichts mehr zu essen im Haus war.
     
    Dann wieder rettete sie Menschen, und nicht nur im Krankenhaus. Menschen wie Nounou und andere, die in ihr das beständigste aller Idole sahen.
    Sie hatte vor nichts und niemandem Angst. Trat einen Schritt zur Seite, wenn ihr der Himmel auf den Kopf fiel. Steckte ein. Wehrte sich. Zahlte die Zeche. Klimperte mit den Wimpern, ballte die Hände oder hielt ihren Mittelfinger hoch, je nach Gegner, kapierte schließlich, dass die Leitung unterbrochen war, legte auf, zuckte mit den Schultern, schminkte sich und nahm sie mit ins Restaurant.
     
    Ja, das Alter oder der Altersunterschied waren vermutlich die einzigen Zahlen, die diesem guten Schüler Widerstand geleistet hatten. Eine an den Rand geschriebene Ungleichung. Zu viele Unbekannte. Dabei erinnerte er sich genau, wie ihr Gesicht ihn das letzte Mal beeindruckt hatte. Ihn hatten jedoch nicht die Falten oder der weiße Haaransatz aus der Fassung gebracht, sondern ihr – Verzicht.
    Irgendetwas, irgendjemand – das Leben – hatte das Licht ausgeknipst.
     
    Ihm wurde ein Espresso angeboten, Blümchenkaffee von der übelsten Sorte, den er erfreut akzeptierte. Er saugte an dem heißen Plastik und drückte die Stirn an die Scheibe, betrachtete die bebenden Flügel, versuchte, die Sterne von anderen Langstreckenflugzeugen zu unterscheiden, stellte die Zeiger seiner Uhr zurück und bahnte sich weiterhin seinen Weg durch die Nacht.
     
    *
     
    Das zweite Foto hatte er selbst geknipst. Das weiß er noch, weil ihm sein Onkel Pierre kurz zuvor die kleine Kodak Instamatic geschenkt hatte, von der er so lange schon träumte, und er hatte die Ärmel

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