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Alles Glück kommt nie

Titel: Alles Glück kommt nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Mama, ich muss mal pissen!‹ Sie antwortet: ›Mein Junge, so was sagt man nicht! Sag lieber: Ich muss mal singen, dann weiß ich Bescheid.‹ Die Woche darauf ist Klein-Fritzchen bei Oma und darf bei ihr im Bett schlafen. Da sagt er: ›Du Oma, ich muss mal singen!‹ ›Ach, Fritzchen, nicht jetzt, wir wollen schlafen!‹ ›Du Oma, ich muss aber wirklich mal singen!‹ ›Na gut, dann sing mir was ins Ohr!‹«
    Ihr liefen vor Lachen die Tränen.
    Später auf der Autobahn, nachdem Alexis eingeschlafen war: »Charles?«
    »Ja?«
    »Weißt du, wenn ich mich heute Anouk nenne, dann – dann liegt das daran, dass ich den Vornamen schöner finde.«
    Wenn er nicht gleich antwortete, lag es daran, dass er über eine supergute Antwort nachdachte.
    »Verstehst du?«
    Sie hatte den Rückspiegel etwas nach unten gestellt, um seinen Blick einzufangen.
    Aber er fand keine Antwort, die gut genug war. Darum beschränkte er sich darauf, den Kopf zu schütteln und sie dabei anzulächeln.
    »Geht’s deinem Bauch wieder besser?«
    »Ja.«
    »Weißt du«, fuhr sie etwas leiser fort, »ich hatte auch immer Bauchschmerzen, wenn ...«
    Sie brach ab.
     
    Charles hatte nicht damit gerechnet, dass er sich an solche Dinge erinnern würde. Warum kam es jetzt plötzlich zu diesem Bumerang? Den vergessenen Geschenken, dem Hundert-Franc-Schein auf dem Tisch und dem Geruch dieser Wohnung nach verbranntem Fett und ranziger Eifersucht.
    Weil ...
    Weil auf ihrem Grabstein Wahlstelle J93 über ihren Daten zu lesen war:
     
    LE MEN ANNICK
     
    »Diese Ärsche...«, waren seine einzigen andächtigen Worte.
     
    Er kehrte eilig zu seinem Wagen zurück, machte den Kofferraum auf und wühlte im Chaos.
    Es war ein fluoreszierender Baumarkierer. Er schüttelte die Dose, kniete sich neben den Grabstein, fragte sich zunächst, wie er vorgehen sollte, um aus dem zweiten »n« einen Kreis zu machen und das »i« mit dem »k« zu verbinden, beschloss dann, alles zu streichen, und gab ihr ihr wahres Gesicht zurück.
     
    Klasse! Applaus! Was für ein Bravourstück!
    Was für eine wunderbare Huldigung!
     
    Pardon.
     
    Pardon.
     
    Eine Omi, die das Nachbargrab ansteuerte, betrachtete ihn stirnrunzelnd. Er verschloss die Spraydose und richtete sich auf.
    »Gehören Sie zur Familie?«
    »Ja«, antwortete er kurz angebunden.
    »Nein, ich frage nur, weil ...«, ihr Mund verzog sich, »irgendwo gibt es auch einen Wärter, aber ...«
    Charles’ Blick brachte sie aus der Fassung. Sie richtete ihr Grab schnell her und verabschiedete sich.
    Das war bestimmt Madame Maurice Lemaire.
    Maurice Lemaire, dem seine Jagdfreunde eine schöne Tafel mit einem plastisch herausgearbeiteten Gewehr spendiert hatten.
    Ein Traum von einem Nachbarn, was meinst du, Anouk? Aber sag mal ... Du bist hier wirklich bestens aufgehoben ...
     
    Als er den Friedhof verließ, erblickte er den Mann, der »hier der Wärter« sein musste, »aber ...«
    Er war schwarz.
    Alles klar ...
    Es gibt für alles eine Erklärung.
     
    Als er sich in den Wagen fallen ließ, stieg ihm der Geruch der Blumen unangenehm in die Nase. Er warf sie in einen Müllcontainer und sah auf die Uhr.
    Gut. Er hätte noch die Zeit, den Idioten anzurufen, bevor er an Bord ging.
     
    Seine Assistentin hatte wiederholt versucht, ihn zu erreichen. Er ignorierte die Anrufe, schaltete sein Handy schließlich aus.
    Den Blick starr geradeaus gerichtet, die Daumennägel ins Lenkrad gebohrt, war ihm einen Augenblick lang schwindlig.
    Umkehren, einen Unfall vorschützen, vorgeben, er habe den Flieger verpasst, hinzufügen »knapp«, Paris umfahren, rauf auf die Autobahn, in Dingskirchen raus, Dingsda anpeilen, Straße XY suchen, die Tür zur Nummer 8 aufstoßen.
    Ihn endlich finden.
    Und ihm die Faust ins Gesicht schleudern.
     
    Das hätte er schon vor zwanzig Jahren tun sollen. Aber er bereute nichts, in der Zwischenzeit hatte er mindestens zehn Kilo zugelegt und einigen Groll angesammelt. Sein Kiefer würde es ihm danken.
     
    Aber nein. Klein Rocky in Tweedjacke setzte den Blinker und reihte sich in die linke Spur ein. Er hatte zugesagt. Er würde sich in einem der Tagungsräume des Park Hyatt in Toronto langweilen und zurückkommen, den Kopf und die Aktenmappe voll mit Advances in Building Technology , die ihm weder seine Kräne noch seinen Glauben zurückgeben könnten.
    Ja. Auch hier käme es zu einem Zögern in seinem Nekro... Architekt, sagen Sie?
    Ach so. Das hatte ich ganz vergessen. Witzig, all die Jahre hatte ich eher das

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