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Alles Glück kommt nie

Titel: Alles Glück kommt nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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denen du dich fragst, ob du es schaffen wirst. An denen du arbeitest. Dich selbst vergisst. Fünftausend Tage, an denen du dich abrackerst, und fünftausend Nächte eingesperrt. Niemals einen Augenblick für dich, niemals einen Tag Urlaub, keine Eltern, keine Schwester, keinen Menschen, derdir den Kleinen abnimmt, damit du mal verschnaufen kannst. Keinen Menschen, der dich daran erinnert, dass du früher sogar ein bisschen hübsch warst. Millionen von Stunden, in denen du dich fragst, warum er uns das angetan hat, und dann, eines Morgens, ist er wieder da, der Dreckskerl, und weißt du, was du dir in dem Moment klarmachst? Du machst dir klar, dass du ihnen schon nachtrauerst, diesen Millionen von Stunden, weil sie nichts sind, verglichen mit denen, die kommen werden ...«
    Sie schlug die Stirn gegen die Wand. »Na klar, ein Pianist in Luxushotels als Vater, das ist schließlich was anderes als eine mickrige Krankenschwester, oder?«
    Sie schrie mich an, aber ich weigerte mich, in die Falle zu gehen. Sie hatte sich im Ohr geirrt. Ich war viel zu klein für das hier, das war nichts für ein Kind in meinem Alter, wie mein Vater sagen würde. Nein, es war nicht an mir, ihr zuzustimmen oder zu widersprechen. Sie musste ausnahmsweise allein zurechtkommen.
    »Du sagst gar nichts?«
    »Nein.«
    »Du hast recht. Es gibt auch nichts zu sagen. Ich bin ihm ja selbst auf den Leim gegangen, folglich ... Ich verstehe ihn. Es gibt nichts Schlimmeres als Musiker, glaub mir. Man weiß nicht, woran man mit ihnen ist. Man hält sie für einen Mozart oder was auch immer, und dabei sind sie nur Scharlatane, die die Augen zumachen, sobald sie kapiert haben, dass die Sache gebongt ist. Dass du weichgekocht bist. Die die Augen schließen, bevor sie dich ... Ich hasse sie.
    Mir ist schon klar, dass ich nie eine gute Mutter war, aber es war auch hart, weißt du? Ich war noch keine zwanzig, als Alexis auf die Welt kam, und jetzt – er hatte sich davongemacht. Die Hebamme hatte den Kleinen in ihrer Mittagspause angemeldet und kam ganz stolz zurück, hielt mir diesen Schwindel hin, der sich Familienstammbuch nennt. Und ich habe angefangen zu heulen. Was sollte ich mit einem Familienstammbuch? Ichwusste ja nicht einmal, wo ich nächste Woche wohnen würde. Meine Bettnachbarin wiederholte ununterbrochen: ›Na na, jetzt hören Sie doch auf, so zu weinen. Davon wird nur Ihre Milch sauer ...‹ Aber ich hatte gar keine Milch! Ich hatte keine Milch, verdammt noch mal! Ich sah nur dieses plärrende Baby und ...«
     
    Ich biss die Zähne zusammen. Wenn sie nur endlich den Mund halten würde. Bitte! Warum erzählte sie mir das? All diese Weibergeschichten, die ich nicht verstand? Warum belastete sie mich damit, mich, der ich immer auf ihrer Seite stand? Der sie immer verteidigte. Jetzt hätte ich sonst was gegeben, um bei meiner Familie zu sein. Bei diesen normalen, ausgeglichenen, verdienstvollen Leuten, die nicht schrien, die unter der Spüle keine leeren Flaschen stapelten und die den Anstand besaßen, uns energisch in unsere Zimmer zu schicken, wenn sie das Bedürfnis hatten, sich auszusprechen.
    Die Asche ihrer Zigarette war in ihren Ärmel gefallen. »Kein einziges Lebenszeichen, kein Brief, keine Unterstützung, keine Erklärung, nichts ... Nicht einmal der Wunsch zu erfahren, wie sein Sohn heißt. Anscheinend war er in Argentinien. Das hat er Alexis erzählt, aber ich glaube es nicht. Sein Argentinien kann er sich sonstwohin stecken. Warum nicht gleich Las Vegas, wenn wir schon dabei sind?«
    Sie weinte.
    »Er hat mich in der schlimmsten Zeit allein gelassen und jetzt, wo der Junge aus dem Gröbsten raus ist, ein Reifenquietschen, zwei Versprechungen, drei Geschenke, und schon heißt es tschüss, Alte. Soll ich dir was sagen? Eine Sauerei ist das.«
    »Ich muss los, sonst verpasse ich meinen Zug.«
    »Genau, hau ab, mach’s wie die anderen. Lass mich auch im Stich.«
    Als ich an ihr vorbeiging, fiel mir auf, dass ich sie mittlerweile überragte.
    »Bitte, bleib ...«
    Sie hatte meine Hand gepackt und auf ihren Bauch gedrückt. Entsetzt riss ich mich los, sie war besoffen.
    »Entschuldige«, flüsterte sie und zog ihren Morgenmantel fester um sich, »entschuldige.«
     
    Ich war schon auf dem Treppenabsatz, als sie hinter mir herrief: »Charles!«
    »Ja.«
    »Entschuldigung.«
    »...«
    »Sag was ...«
    Ich drehte mich um. »Er kommt zurück.«
    »Meinst du?«
     
    Als er an der Place de Clichy feststeckte, hinter dem 81er Bus, in einem anderen

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