Alles Glück kommt nie
Jahrhundert, erinnerte er sich an dieses ungläubige Lächeln, nachdem sie sich endlich dazu durchgerungen hatte, das Kinn zu heben. An dieses so verwirrte, so – nackte Gesicht, an das Geräusch der Tür in seinem Rücken und die Anzahl der Stufen, die ihn damals von der Welt der Lebenden trennten: siebenundzwanzig.
Siebenundzwanzig Stufen, auf denen er sich zunehmend größer und schwerer fühlte. Siebenundzwanzigmal den Fuß in der Luft, die Fäuste in seinen Taschen wurden immer fester. Siebenundzwanzig Stufen, um zu begreifen, dass es sich nicht leugnen ließ, er war auf der anderen Seite angekommen. Denn anstatt an ihrem Kummer Anteil zu nehmen und Alexis’ Verhalten zu rügen, konnte er nicht umhin, sich zu freuen: Der Platz war frei.
Und als seine Mutter anfing, ihn zu tadeln, weil er seinen Teller nicht abgeräumt hatte, schickte er sie zum ersten Mal in seinem Leben zur Hölle.
Seine dünne Kleinjungenhaut war im Treppenhaus geblieben.
Er sah den Unterrichtsstoff im Zug nicht noch einmal durch und schlief an diesem Abend mit seiner rechten Hand versöhnt ein. Schließlich hatte sie sie berührt. Er schämte sich deswegen nicht weniger, er war nur – älter geworden.
Im Übrigen sollte ich wieder einmal recht behalten. Alexis kam zurück.
»Wann holt dich dein Vater wieder ab?«, fragte Anouk ihn nach den Osterferien.
»Gar nicht.«
Dank meiner Mutter und ihres Einsatzes erhielt er einen Platz im Collège Saint-Joseph, und ich fand meinen in seiner Spur.
Ich war erleichtert. Anouk, die anscheinend einen Pakt mit dem Schicksal eingegangen war, oder vielleicht auch mit dem Teufel, änderte ihr Leben. Hörte auf zu trinken, legte sich eine Kurzhaarfrisur zu, stellte den Antrag, als OP-Schwester arbeiten zu dürfen, und ließ sich von ihren Kranken nicht mehr aus der Ruhe bringen. Begnügte sich damit, ihnen beim Einschlafen zu helfen.
Außerdem beschloss sie, ihre Wohnung zu streichen, einfach so, ein Schnippen mit den Fingern nach einem Kaffee: »Geh und hol Charles! Dieses Wochenende nehmen wir die Küche in Angriff!«
In dieser Situation, als wir zu dritt die Wände abwuschen, erfuhren wir, wie sich die Dinge wirklich verhielten. Ich weiß nicht mehr, wie das Gespräch auf seinen Vater kam, aber Anouk und ich hörten einen Moment lang auf, uns über unsere Schwämme aufzuregen.
»Eigentlich suchte er einen Partner, aber als ihm klar wurde, dass ich noch nicht das Alter hatte, um mit ihm aufzutreten, war es aus, da interessierte ich ihn nicht länger.«
»Hör auf«, seufzte Anouk.
»Wirklich wahr. Er hatte sich verrechnet, der Depp! ›Bist duerst fünfzehn? Du bist erst fünfzehn?‹, hat er mich dauernd genervt. ›Bist du sicher, dass du erst fünfzehn bist?‹«
Weil er darüber lachte, lachten wir auch, aber – wie soll ich sagen – Natriumchlorid brennt schon mächtig, was? Nein, ich sage das nur, weil wir einige Zeit brauchten, bis wir uns wieder unterhalten konnten, so beschäftigt waren wir damit, die kleinen Kristalle auszuscheiden.
»Ich seh schon, ich habe hier die Stimmung verdorben«, scherzte Alexis, »aber ist schon okay, was? Ich bin ja nicht tot.«
Sie hingegen, und meine schönen Berechnungen erwiesen sich in diesem Punkt als nichtig, hatte seine Abwesenheit nicht überlebt. Sie erlaubte nicht, dass ich sie besuchte. Ich klopfte vergeblich und zog besorgt wieder davon, nahm ihre durchgetretenen Treppenstufen drei auf einmal.
Ich hatte mich komplett vertan. Der Platz wäre niemals frei. Aber ich hatte einen Brief erhalten. Den einzigen übrigens in vier Jahren Internatsleben.
Entschuldige, dass ich Dir gestern nicht aufgemacht habe. Ich denke oft an Dich. Ihr fehlt mir. Ich liebe Euch.
Zuerst war ich leicht genervt, dann habe ich das »Euch« gestrichen und den Brief verbrannt, wie ich ihn gelesen hatte. Ich fehlte ihr, das war alles, was ich wissen wollte.
Warum stochere ich jetzt in diesen Erinnerungen herum? Ach ja, der Friedhof ...
Du bist ja jetzt volljährig. Deine Untreue ist legal.
Nach deiner Spritztour im italienischen Coupé war sie nie mehr dieselbe. Hatte seine Abwesenheit sich – dämpfend auf sie ausgewirkt? Sie fortan daran gehindert, uns in die Arme zu schließen, fest an sich zu drücken, uns mit Küssen zu überhäufen und uns alles zu geben? Ich glaube nicht.
Es war ihr Misstrauen. Das Wissen um ihre Einsamkeit. Und diese plötzliche Vorsicht, diese seltsame Zurückhaltung, diese Kehrtwende war eine Abschnürbinde,
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