Alles Glück kommt nie
elf. Wo bleiben sie denn ...
Er rief Laurence an, Mailbox.
Erwischte Mathilde: »He, Mädels, wo seid ihr?«
»Charles? Huch? Bist du nicht in Kanada?«
»Wo seid ihr?«
»Na ja, wir haben Ferien. Ich bin bei Papa –«
»Ach.«
»Ist Mama nicht da?«
O je, dieses ängstliche Stimmchen gefiel ihm gar nicht. »Sekunde mal, ich höre gerade den Fahrstuhl«, log er, »dann mach’s gut. Ich ruf dich morgen wieder an.«
»He?«
»Ja.«
»Sag ihr, dass für Samstag alles klargeht. Sie weiß dann schon.«
»Okay.«
»Und noch was. Deinen Song hör ich die ganze Zeit.«
»Welchen?«
»Du weißt schon. Den von Cohen.«
»Ach?«
»Ich finde ihn toll.«
»Wunderbar. Dann kann ich dich ja endlich adoptieren, was?«
Er legte auf, sah sie vor sich, wie sie schmunzelte.
Die Fortsetzung ist trauriger.
Er steckte Sibelius zurück in die Hülle, zog einen Pullover über, ging in die Küche, hob die Deckel hoch, versuchte Verkochtes von Verkohltem zu trennen, seufzte und kippte schließlich alles in den Müll. War noch tapfer genug, die Töpfe einzuweichen, schnappte sich die Flasche und warf einen letzten Blick auf seine lächerlichen Kerzenständer.
Er löschte das Licht, schloss die Tür und – wusste nicht mehr, was tun.
Also tat er nichts.
Wartete.
Trank.
Und wie in seinem Hotelzimmer vergangene »Nacht« verfolgte er den Sekundenzeiger.
Versuchte zu lesen.
Keine Chance.
Vielleicht eine Oper?
Zu laut.
Gewann um Mitternacht seine Fassung wieder. Laurence war nicht die Frau, die riskierte, auf der Treppe ein goldenes Pantöffelchen zu verlieren.
Keine Chance.
Keine gute Fee heute Abend.
Peilte zwei Uhr an. Ein Abendessen in angenehmer Gesellschaft, dann die Zeit, bis man ein Taxi fand, zwei Uhr, das war möglich.
Keine Chance.
Machte die zweite Flasche auf.
Viertel vor drei, Madame Bin-so-frei.
Der Abend war gelaufen.
Formulierung von Mathilde, die nichts besagte.
Was war gelaufen? Nichts.
Alles.
Trank im Dunkeln.
Geschah ihm recht.
Das wird ihn lehren, vorzeitig zurückzukommen, ohne sich anzukündigen.
Ging los, um den Briefumschlag mit den Fotos zu holen.
In der Stimmung, in der er sich befand, konnte er auch gleich mit dem Finger in der Wunde bohren.
Alexis und er. Als Kinder. Freunde. Brüder. Auf dem Spielplatz. Im Garten. Auf dem Schulhof. Am Meer. Am Tag der Tour de France. Bei seiner Großmutter. Beim Füttern der Stallhasen, auf dem Bauernhof und hinter dem Traktor von Monsieur Canut.
Alexis und er. Arm in Arm. Immerzu. Und für immer. Sie hatten ihr Blut vermischt, ein Vogeljunges gerettet und im Tabakladen von Brécy eine Nummer von Lui gestohlen. Hatten sie hinter dem Waschtrog gelesen, viel gekichert, zogen aber Pif Gadget vor. Hatten sie bei dem dicken Didier gegen eine Fahrt auf dem Mofa eingetauscht.
Alexis vor einem Vorspiel. Ernstes Gesicht, zugeknöpftes Hemd, die Krawatte, die Henri ihm geschenkt hatte, die Trompete ans Herz gedrückt.
Anouk nach ebendiesem Vorspiel. Stolz. Gerührt. Zeigefinger am Auge, Wimpern verschmiert.
Nounou am Ende der Bank mit Claire auf dem Schoß. Claire mit gesenktem Kopf, spielte vermutlich mit seinen Ringen.
Sein Vater. Das Foto war abgeschnitten. Ohne Kommentar.
Er als Student mit vielen Haaren. Fuchtelte mit der Hand vorm Objektiv herum und zog eine Grimasse.
Anouk, wie sie bei seinen Eltern tanzt.
Weißes Kleid, Haare zurückgekämmt, dasselbe Lächeln wie auf dem ersten Foto, unterm Kirschbaum, fast fünfzehn Jahre früher.
Dabei würde sie in wenigen Stunden ...
Spielt keine Rolle.
Charles ließ sich nach hinten fallen. Was ist das denn?, du gibst aber auch nicht nach, da suhlst du dich in der Vergangenheit wie ein Schwein im Dreck, wo dich doch die Gegenwart bedrücken sollte. Die Gegenwart läuft aus dem Ruder, mein Lieber. Ist dir klar, dass deine Frau in den Armen eines anderen liegt, während du hier in kurzen Hosen flennst?
Meine Güte, mach was. Steh auf. Brülle. Hämmere an die Wand. Hasse sie. Blute.
Aber bitte ...
Heul wenigstens!
Ich habe mich im Flieger schon ausgeheult.
Dann sag, dass du unglücklich bist!
Unglücklich?, fragte er kopfschüttelnd. Was – was soll das denn heißen, unglücklich?
Du hast zu viel getrunken, in ein paar Stunden wirst du es wissen.
Nein. Im Gegenteil. Ich habe noch nie so klar gesehen. Charles.
Was ist denn jetzt schon wieder?.
Unglücklich ist das Gegenteil von glücklich.
Und was bedeutet das genau, glück...
Nein. Nichts.
Er
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