Alles Glück kommt nie
eine OP-Klemmean der Hohlvene. Sie neckte uns nicht länger, gluckste nicht mehr ein »Tja, eine gewisse Julie am Apparat ...«, wenn dieser Hampel von Pierre anrief, weil er schon wieder sein Geobuch vergessen hatte, und schloss sich in ihrem Schlafzimmer ein, wenn du besonders gut spieltest.
Hatte Angst.
*
Hinter dem Bahnhof Saint-Lazare war der Verkehr weniger nervig. Charles wich ihm aus, verließ die Herde, nahm ein paar Schleichwege und musterte vor den roten Ampeln eingehend die Fassaden der Häuser. Vor allem die eine, am Square Louis-XVI, mit ihren Art-déco-Tieren, die er so sehr liebte.
Auf diese Weise hatte er Laurence verführt.
Er war blank gewesen, sie ein Traum, was konnte er ihr bieten? Paris.
Er hatte ihr gezeigt, was andere nicht sahen. Hatte Toreinfahrten aufgestoßen, war über Mäuerchen gestiegen, hatte ihre Hand gehalten und vor ihrer Stirn Zweige von wildem Wein abgerissen. Hatte ihr Fratzengesichter an Barockbauten erklärt, einen Atlas, der die Himmelskugel trägt und verzierte Giebel. Hatte sich mit ihr in der Passage du Désir verabredet und in der Rue Gît-le-Cœur eine Liebeserklärung abgegeben. Hielt sich vermutlich für superschlau, war superdumm.
War verliebt.
Sie inspizierte ihre Absätze, wenn er Pförtnerinnen in ausgetretenen Latschen, die direkt einem Foto von Doisneau entsprungen schienen, seinen Studentenausweis vorlegte, er hatte sie um die Taille gefasst, hob den Zeigefinger und küsste ihren Nacken, als sie das Gesicht von Madame Lavirotte an der Avenue Rapp suchte oder die Ratten von Saint-Germain-l’Auxerrois.
»Ich sehe sie nicht ...«, sagte sie verzweifelt.
Das überraschte ihn nicht. Er hatte ihr den falschen Wasserspeier gezeigt, damit die Spur ihres Chanel No. 5 länger anhielt.
Seine schönsten Skizzenbücher stammen aus diesen Jahren, als alle Karyatiden von Paris ihm etwas schuldeten: den Liebreiz ihrer Schulter, ihr hübsches Näschen oder die feine Rundung ihrer Brust.
Ein Typ überholte ihn, scherte direkt vor ihm ein und zeigte ihm die Faust.
Hinter der Seine beruhigte er sich wieder. Ihm fiel ein, dass er auf dem Weg zu ihr war, was ihn fröhlich stimmte. Sie und Mathilde, seine beiden Megären ...
Die ihm das Leben schwermachten und ihm von Schwarz bis Weiß alle Schattierungen boten.
Die Schattierungen störten ihn nicht. Ein bisschen anstrengend manchmal, aber abwechslungsreicher als ein Leben in Grau.
5
Er hatte beschlossen, sie mit einem leckeren Abendessen zu überraschen. Beim Metzger in der Schlange dachte er sich das Menü aus, kaufte noch Blumen und machte einen Abstecher zum Kellermeister.
Legte Musik auf, krempelte die Ärmel hoch, holte ein sauberes Handtuch heraus und schnitt alles klein: den Knoblauch, die Schalotte, seine Schwäche und seine Unruhe. Heute Abend würde er ihnen zuhören.
Er würde Laurence berauschen und sehr lange streicheln. Während er sie entkleidete, würde er seine Phantomhaut ablegen, und wenn er sie mit der Zunge liebkoste, würde er die Bitterkeit der letzten Tage verscheuchen. Würde Anouk beerdigen, Alexis vergessen, Claire anrufen, um ihr zu sagen, dass das Leben schön sei, dass seine kleine Nutte eine schrille Stimme habe. Würde Mathilde morgen von der Schule abholen und ihr eine weitaus brüchigere schenken, die von Nina Simone.
I sing just to know that I’m alive.
Ja.
Er. Er war am Leben.
Stellte die Flamme kleiner, deckte den Tisch, duschte, rasierte sich, schenkte sich Wein ein, näherte sich den Lautsprecherboxen und dachte an die Druckerei des schwergewichtigen Voernoodt.
So schlimm war es auch wieder nicht. Er würde ausnahmsweise ohne Kostenvoranschlag arbeiten, ohne Zeitverschiebung und ohne Drama. Was für ein Luxus. Ihm kam die Formulierung dieser wütenden Schriftsetzer in den Sinn, die ihn amüsiert hatte: Alles hinzuschmeißen war gleichbedeutend mit derDrohung, »in das Kästchen mit den Auslassungszeichen zu kacken«. Gut, er würde versprechen, besser zu zielen. Wenigstens das Licht zu retten ...
Der Wein war perfekt, die Kasserolle zischelte vor sich hin, und er hörte Sibelius, während er auf die Rückkehr zweier hübscher Pariserinnen wartete. Alles lief bestens.
Bald kam das Finale der Symphonie Nr.2. Stille.
Stille unter der Schädeldecke.
*
Die Kälte weckte ihn. Er stöhnte – der Rücken – und brauchte ein paar Sekunden, um zu sich zu kommen. Der Abend war fast vorüber, und das Essen ... Scheiße, wie spät war es?
Halb
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