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Alles Glück kommt nie

Titel: Alles Glück kommt nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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haben. Warten Sie. Ich gehe auch.«
     
    Und während er den Alarmcode eingab: »In Ihrem Alter war ich sehr neugierig und hatte das große Glück, ein paar unglaubliche Sessions mitzuerleben, aber wenn es eine Sache gibt, mit der er mich wirklich verblüfft hat, dann war das, als er ’89 sein Projekt für die Bibliothek von Jussieu vorstellte –«
    »Die Sache mit der Schere?«
    »Ja.«
    »Oh! Wie gern hätte ich das gesehen –«
    »Ich war zwar nicht dabei, aber es war wirklich – wie soll ichsagen – intelligent. Ja, mir fällt kein anderes Wort dafür ein, intelligent.«
    »Ich habe aber auch gehört, dass das Ganze heute ein alter Hut ist. Dass er das jedes Mal bringt –«
    »Keine Ahnung.«
    Sie gingen Seite an Seite die Treppe hinunter.
    »Ich weiß nur, dass er es noch mindestens einmal gemacht hat, damals war ich nämlich dabei.«
    »Wirklich?« Der junge Mann blieb stehen und hielt seine Tasche fest.
     
    Im erstbesten Bistro blieben sie hängen, und Charles erinnerte sich zum ersten Mal seit Monaten, seit Jahren an seinen Beruf.
    Erzählte.
    1999, das heißt zehn Jahre nach dem »Schock von Jussieu«, hatte er, weil er einen Typ vom Ingenieurbüro Arup kannte, die Gelegenheit bekommen, in der Benaroya Hall von Seattle Platz zu nehmen und einer der besten Shows seines Lebens beizuwohnen. (Nounous Darbietungen ausgenommen.) Kein einziger Solist in diesem funkelnagelneuen Sendesaal, aber alles, was die Stadt an reichen Stiftern, rechtschaffenen Großbürgern und Powerful Citizens zu bieten hatte. Aufgeregtes Talkie-Walkie und ein langes Band von Limousinen auf der gesamten Third Avenue.
     
    Ein paar Monate zuvor war ein Wettbewerb für den Bau einer riesigen Bibliothek ausgeschrieben worden. Auch Pei und Foster hatten sich beteiligt, aber die beiden Entwürfe, die in die engere Wahl kamen, stammten von Steven Holl und Rem Koolhaas. Der Entwurf von Holl war ziemlich banal, aber er war nun mal ein Junge aus der Gegend, und das brachte Gewicht auf die Waage. Buy american , you know.
    Nein, er erzählte nicht, vielmehr erlebte er alles noch einmal. Stand auf, schlug mit den Armen aus, setzte sich wieder, schob die Biergläser beiseite, kritzelte in seinem Notizbuch herum und erklärte Marc, wie dieses Genie von fünfundfünfzig Jahren, damals also nur ein wenig älter als er heute, seinen Entwurf so theatralisch inszeniert hatte, es vermocht hatte, allein mit einem leeren Blatt Papier, einem Stift und einer Schere bewaffnet – schon ahmte er ihn nach, faltete das ausgeschnittene Blatt und nahm es wieder auseinander –, den Sieg einzufahren und eine Baustelle zu gewinnen, deren Kosten sich am Ende auf über 270 Millionen US-Dollar belaufen sollten.
    »Ein einfaches DIN-A4-Blatt!«
    »Ja, ja, ich verstehe. 270 Millionen, die 5 Gramm.«
     
    Sie bestellten sich ein Omelett, weitere Bierchen, und Charles nahm, angefeuert von den Fragen seines Studenten, den großen Mann weiter auseinander. Beziehungsweise schilderte, wie dessen Formulierungsgabe, Prägnanz, sein Sinn für Diagramme, sein Humor, seine rasche Auffassungsgabe, auch seine ironische Art es ihm erlaubten, in nicht einmal zwei Stunden eine Vision von höchster Komplexität klar und verständlich rüberzubringen.
    »Das war doch dieses Gebäude mit den versetzten Plattformen, oder?«
    »Genau, ein komplexes Spiel mit der Horizontalität in einem Land, das auf den Himmel schwört. Sie müssen zugeben, das allein war schon ziemlich verwegen. Ganz zu schweigen von den seismischen Einschränkungen und einer ganzen Latte an irrsinnigen Auflagen. Der Typ, den ich vorhin erwähnt habe, der von Arup, hat mir erzählt, dass sie fast durchgedreht wären.«
    »Haben Sie es fertig gesehen?«
    »Nein. Nie. Aber das ist auch nicht das Gebäude, das mir von ihm am besten gefällt.«
    »Sondern?«
    »Wie bitte?«
    »Welches gefällt Ihnen am besten?«
     
    Mehrere Stunden später wurden sie hinauskatapultiert und blieben noch lange an die Motorhaube von Marcs Auto gelehnt stehen, verglichen ihre Vorlieben, ihre Ansichten und die zwanzig Jahre, die sie trennten.
    »Gut, ich muss los. Das Abendessen habe ich schon verpasst, da sollte ich es wenigstens zum Frühstück schaffen.«
    Er warf seine Tasche auf den Rücksitz und bot Charles an, ihn nach Hause zu fahren. Dieser nutzte die Gelegenheit, um zu fragen, wo seine Eltern lebten, im wievielten Jahr er war und wieso es ihn zu ihnen verschlagen hatte.
    »Ihretwegen.«
    »Meinetwegen?«
    »Ihretwegen habe ich

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