Alles Gold Der Erde
Vor einem Jahr hatte sie weder Ted noch Marny gekannt. Sie hätte sich nicht träumen lassen, daß die Bäche Kaliforniens über goldhaltigen Sand strömten. Sie hätte sich auch nicht träumen lassen, daß sie eines Tages Loren Shields heiraten würde.
Vor einem Jahr war dies hier ein Dorf mit neunhundert Einwohnern gewesen. Heute dagegen – sie wußte nicht, wie viele Menschen jetzt in der Stadt lebten; niemand hatte Zeit, sie zu zählen; Tausende mußten es jedoch ganz sicher sein. Vor einem Jahr hatten herzlich wenig Leute auf der Welt je etwas von einem Ort namens San Francisco gewußt. Heute wußten nur herzlich wenig Leute auf der Welt nichts davon.
Tiefer am Hang erspähte sie Marny und Archwood zu Pferde. Marny hatte sie bereits erkannt und winkte. Kendra und Loren winkten gleichfalls. Nach einigen Schwierigkeiten fanden sie zusammen und hielten nun gemeinsam Ausschau. Marnys rotes Haar wehte keck unter dem Rand ihres Hutes hervor. Ihre grünen Augen waren groß und strahlend. Vor Aufregung konnte sie kaum noch schnaufen. Archwood hingegen zeigte sich interessiert, doch keineswegs erregt. Er lächelte mit seiner üblichen weltläufigen Eleganz. Archwood wahrte stets eine gewisse Distanz. Er genoß das Abenteuer, das hier auf ihn wartete, wirklich. Zu Hause war er indessen immer noch in New York.
Marny, die auch ein Fernglas bei sich hatte, beäugte den Dampfer und pfiff plötzlich leise.
»Das ist ein Haufen Leute!« rief sie aus. »Loren, Kendra, glaubt ihr beiden nicht auch, daß irgend jemand an Bord sein muß, den wir kennen?«
Archwood schaute sie amüsiert und nachsichtig an. »Marny wird diesen Gedanken einfach nicht los. Ich habe ihr gesagt, daß ein paar Millionen Menschen gern mit diesem Dampfer gefahren wären. Warum sollten ausgerechnet wir einen davon kennen?« Er zuckte mit den Schultern.
»Das ist mir egal«, erklärte Marny. »Trotzdem ist es möglich, daß wir jemanden kennen.«
Archwood lächelte. Ihm gefiel das alles. Daß Marny alles, was sich in ihrer Umgebung abspielte, mit Humor aufnahm, war einer der Gründe, derentwegen er sie so entzückend fand.
Kendra freute sich, daß der Dampfer an einem sonnigen Tag anlegte. Das Wasser der Bucht war so hell, daß es ihre Augen fast blendete. Die verlassenen Schiffe sahen nicht ganz so trostlos aus wie an regnerischen Tagen. Fünf Kriegsschiffe befanden sich außer dem Flaggschiff in der Bai. In dem Moment, als der Kommodore die Nachricht vom Eintreffen des Dampfers erhalten, hatte er seine Vorbereitungen zum Willkommensgruß getroffen.
Gewiß waren nicht wenige Matrosen desertiert, die Mehrzahl freilich hatte ihren Posten nicht verlassen. Diese Seeleute hatten nun ihre Fahrzeuge mit allen Fahnen und Wimpeln geschmückt, die sie hatten auftreiben können.
Der Dampfer schob sich zwischen den beiden zackigen Landstreifen in die Bucht. Die Zuschauer schrien: »Hoch!« Auf Bergen und Dächern, an Fenstern und am Ufer drängten sich die Leute und brachen in Willkommensgrüße aus. Sie winkten mit Fähnchen und Taschentüchern und Zeitungen. Der Dampfer kam näher. Rauchend und qualmend erreichte er das erste der wartenden Kriegsschiffe. Die Matrosen brüllten, die Kanonen feuerten eine Breitseite ab. Der Dampfer brummte und glitt an allen Schiffen vorbei. Wieder donnerten die Geschütze, der Rauch stieg in dicken schwarzen Wolken auf, die der Sturm zur Küste hin trieb. Loren würgte es in der Kehle, Archwood begann zu husten, Kendra kämpfte mit den Tränen.
Und dennoch war es wunderbar. Darin waren sich alle einig. Sie krächzten und wischten sich die Augen aus und versicherten einander mit rauhen Stimmen: »Heute ist ein großer Tag. Auch nicht für eine Hand voll Gold möchten wir ihn missen!«
Die ersten Goldgräber des Jahres 1849 waren da.
35
Der Rauch verwehte, und nun sahen sie den Dampfer in der Nähe des Flaggschiffs vor Anker. Boote nahmen Offiziere und deren Frauen auf. Die übrigen Passagiere warteten. Sie drückten das wenige Gepäck an sich, das sie in dem überfüllten Schiff hatten mitnehmen können. Blieben sie geduldig, dann wurden sie von der Mannschaft an Land gerudert. Doch schon fuhren Männer hinüber, um zahlungskräftige Leute an die Küste zu befördern.
Es war nun fast Mittag geworden. Marny war nicht die einzige, die hoffte, daß der Dampfer einen Bekannten an Bord haben möge. Hausierer drängten sich durch die Menge und verkauften getrocknete Früchte, Walnüsse und Süßigkeiten. Andere boten Wein und
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