Alles Gold Der Erde
Neuigkeit nahm ihm fast den Atem:
»Kendra! Der Dampfer!«
Sie ließ das Kissen fallen. »In der Bucht?« rief sie.
»Noch nicht. Aber man hat ihn gesichtet. Komm rasch! Wir müssen uns das ansehen. Bring das Fernglas mit.«
Ralph hatte bereits Kendras Reitpferd vors Haus geführt. Schon wimmelte es auf der Straße von Menschen zu Fuß und im Sattel. Alle Welt schrie durcheinander. Lachend stürmten Loren und Kendra davon, um eine Stelle zu finden, von der sie glaubten, den Dampfer am besten beobachten zu können, wenn er durch die enge Passage zwischen den beiden Halbinseln fuhr. Mitten im Radau schrie Loren:
»Wir reiten den Berg hoch. Dann kommen wir zur rechten Zeit ans Ufer, bevor der Dampfer Anker wirft.«
Es war nicht einfach, querfeldein zu reiten, denn jeder versuchte, dem anderen den Weg abzuschneiden. Aber Loren und Kendra schafften es doch. Ralph und Serena hielten sich dicht hinter ihnen. Sie ritten höher, bis die letzten Zelte und Häuser in ihrem Rücken lagen, und erreichten einen Kamm, der eine gute Fernsicht auf das Meer bot. Kendra war überrascht, wie viele Leute auf dieselbe Idee wie sie selber gekommen waren. Überall hier oben hielt man Ausschau. Mit dem Fernglas begann Loren das Meer abzusuchen.
Der Sturm brauste ungehindert um die Bergspitze. Doch ebendieser Sturm hatte auch den Himmel reingefegt. Loren wollte ihr etwas sagen. Jedermann redete indessen auf den andern ein, so daß er seine Worte einige Male wiederholen mußte, ehe sie verstand: »Da ist er – der Dampfer.« Er reichte ihr nun das Glas.
Eifrig führte Kendra es an die Augen. Zunächst vermochte sie bloß die Berge in der Ferne auszumachen und die schaumgekrönten Wellen. Dann aber wandte sie sich hin und her und erblickte schließlich den Dampfer. Es gab ihr einen Schock. Bevor sie von daheim aufgebrochen war, hatte Kendra viele Dampfschiffe auf Flüssen gesehen. Das waren jedoch hübsche kleine Fahrzeuge gewesen, die stets einen frischen Anstrich trugen und deren Messing jeden Morgen poliert wurde. Dieser Dampfer da unten aber war das Häßlichste, was ihr jemals vor Augen gekommen war.
Dieser Dampfer war ein plumpes Schiff mit einem großen Schaufelrad und einem Schornstein, der Rauchwolken ausspie. Drei Masten ragten gleich riesigen Zahnstochern in die Höhe; sicher wurden an ihnen Segel gesetzt, wenn die Maschinen versagten. Und dieser Dampfer war nicht nur häßlich, es herrschte auf ihm ein fürchterliches Durcheinander. Das Schiff war verdreckt, zerkratzt, verwittert. Das salzige Meer und die glühende Sonne hatten es übel zugerichtet. Anscheinend hatte sich seit New York keine Hand gerührt, um den Dampfer zu säubern. Und wann hatte er New York verlassen? Im Oktober. Vor einundzwanzig Wochen also.
Doch dann erinnerte sich Kendra mit Gewissensbissen daran, daß dies ja das erste Dampfschiff überhaupt war, das die atlantische Küste Amerikas hinabgefahren und sich seinen Weg in pazifischen Gewässern nach Kalifornien hinauf gebahnt hatte. Kein Wunder, daß die Matrosen keine Zeit gefunden hatten, sich um das schöne Aussehen ihres Schiffes zu kümmern. Sie hatten alle Hände voll zu tun gehabt, um ans Ziel zu kommen.
Aber jetzt war der Dampfer da. Und er führte eine erstaunliche Zahl von Passagieren mit sich. Kendra sah Männer und Frauen auf Deck zusammengedrängt – es waren wohl mehr, als in den Kajüten Platz fanden. Loren kannte sich in Schiffen aus. Sie gab ihm das Glas zurück, legte die Hände um den Mund und schrie ihm beim Heulen des Sturmes zu:
»Wie viele Passagiere kann das Schiff aufnehmen?«
Nachdem er den Dampfer eine Weile betrachtet hatte, schrie er zurück:
»Etwa hundert.«
»Es müssen aber mindestens dreihundert an Deck sein«, rief Kendra.
»Dreihundert? Sagen wir ruhig: fünfhundert.«
»Aber wo haben die denn alle geschlafen?« wollte Kendra wissen.
Darauf wußte auch Loren keine Antwort. Die Leute irrten auf dem Dampfer umher. Offenbar war ihre Ungeduld, San Francisco kennenzulernen, ebenso groß wie die Neugier der Bewohner von San Francisco, diese Passagiere in Augenschein zu nehmen. Loren winkte Ralph und Serena herbei und schlug vor, ans Ufer zu reiten. Sie hielten dort an, wo Kendra vor einem Jahr zum erstenmal ihren Fuß auf kalifornischen Boden gesetzt hatte.
Bei dieser Erinnerung schrak Kendra zusammen. Die Cynthia hatte sie im Februar 1848 nach San Francisco gebracht. Jetzt schrieb man Februar 1849. Was hatte sich in diesem einen Jahr nicht alles zugetragen!
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