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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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ich,«ich glaubte, sie sei aus diesem Dorf, weil Elias immer von ihr sprach und…»
    «Sie war nicht aus diesem Dorf», unterbrach mich Johannes mit einer so ruhigen Stimme, die keine Verstellung vermuten ließ. Wenn er wirklich die Wahrheit sagte? Vielleicht hatten sein Aufenthalt im Städtchen und sein vergebliches Herumstehen bei den gastlichen Häusern einem anderen Zweck gegolten? Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, welchem, aber einem ganz anderen
Zweck. Vielleicht traf Elias oft mit Mariam zusammen (die im«Dorf mit dem Huhn»wohnte), und diese Begegnungen hatten genügt, ihn glauben zu lassen, was nicht so war. Hatte Elias nicht gesagt, er sei ihr Bruder? Gut, aber hier sind sie alle Geschwister. Nähern sich einem nicht die Schwestern, um ihren schüchternen Beistand anzubieten? Oder Elias hatte gelogen, unschuldig, wie Kinder lügen.
    «Vielleicht war sie aus einem Dorf in der Nähe? », fragte ich.
    «Ich weiß nicht», antwortete Johannes. Und sogleich fügte er hinzu:«Ich habe sie nicht gekannt. »
    Es war schwierig, den Blick des Alten irgendwie zu deuten. Jetzt betrachtete er das Tal, und seine Lüge flößte mir eine neue Ruhe ein. Ich konnte geradezu glauben, Mariam habe nie existiert.
    Der Alte ahnte nicht einmal, wie viel Ruhe seine Lügen mir schenkten, die mich beinahe freisprachen. Wenn er Mariams Existenz leugnete, durfte auch ich sie leugnen. Allerdings waren da noch die beiden Wunden. Immerhin, dass Mariam aufgehört hatte zu existieren, obschon die Lüge des Alten offenkundig war, bedeutete für mich eine Erleichterung. Doch nun musste ich wieder von vorn anfangen. Ich würde nie etwas
über sie wissen, außer dass sie vor Krokodilen Angst hatte, dass sie bisweilen sang (ich konnte mir ihren melancholischen Singsang vorstellen, wenn ich diese Landschaft betrachtete) und auch lachte, wie sie in jener Nacht in meinen Armen gelacht hatte. Und ich blieb hier im Dorf, um für sie zu büßen, ein paar Schritte von ihrem Grab entfernt, neben anderen Gräbern, derweil ich (immerhin ohne es eilig zu haben: zwanzig, dreißig, sechzig Jahre) darauf wartete, ein Grab ganz für mich allein zu besitzen. Für den Augenblick hatte ich eine elende Hütte und meine Wunden: das Unentbehrliche für den Anfang.
    Ich stand mit einem Ruck auf.«Sehr gut», sagte ich laut,«bleibt mir noch der Trost der Religion, vivens iterum Deo .»Und ich lachte. Johannes sah mich an und runzelte die Stirn, ohne zu begreifen.
    «Vivens iterum Deo» , wiederholte ich schreiend. Da Johannes mich weiterhin anstarrte, ging ich zu anderen Bäumen hinüber und blieb dort stehen, um das Tal zu betrachten, das sich in seinem unerbittlichen Sonnenuntergang verfinsterte.

4
    Als die Nacht hereingebrochen war, wartete ich vergebens auf den Schlaf. Der Himmel war mit Sternen übersät, und dann und wann hörte ich in dieser Stille (oder mir war, als hörte ich’s) das Rauschen des Nebenflusses. Dort lag das Krokodil, wahrscheinlich war es sehr alt, wenn es nicht zur Brücke vorzudringen wagte, wo manchmal die Autofahrer ein Bad nehmen. Von oben mochte es wie ein verfaulter Baumstamm aussehen, der sich der Strömung überlässt; es war jedoch ein Krokodil, das die Geschichte dieses Tals kannte und auch ein wenig die Geschichte der Welt, denn der Fluss hatte sich unter seinem Blick jahrhundertelang tiefer eingegraben. Jedenfalls wird es mich überleben, dachte ich; und wer weiß, ob ich nicht eines Tages zu ihm gehe und ihm meine Wunden anbiete.
    Nie würde es mir in diesem Land gelingen, den Schauder der Nacht zu überwinden, wenn es mir schien, als rolle die Welt im Dunkeln dahin und ich hörte unter mir die Hölle dröhnen im Brüllen der wilden Tiere. Ich hatte mir eine der Hütten zurechtgemacht (ich fragte mich, ob es nicht vielleicht Mariams Hütte sei) und den Tornister hineingelegt, doch ich hielt mich ungern darin auf. Vor der Tür ließ ich, gleichsam aus einem unüberwindlichen
Aberglauben, das Feuer bis zur Morgendämmerung brennen. Ich sagte mir, ich würde es brauchen, falls ich mir Kaffee machen wolle; es war jedoch nur die Angst, die es mir geraten sein ließ, das Feuer zu unterhalten. Auch die Angst vor Johannes und vor jenem Grab, das ich immer vor Augen hatte. Es war das Erste, was ich sah, wenn ich erwachte.
    Ich hatte mir also eine Hütte hergerichtet, aber ich wagte noch nicht, darin zu schlafen; ich zog es vor, mich im Freien hinzulegen, obschon dort unten die Nacht dazu keineswegs einlädt. Es war dort ein

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