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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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anderer Himmel, und die Nacht war einfach die Nacht, verschlossen und ohne einen Lichtschimmer; ohne Hundegebell; ohne die tröstenden Geräusche des Lebens, das weitergeht; ohne den Betrunkenen, der auf dem Heimweg singt; ohne das Kreischen der Straßenbahn. Nur weit weg die Hyäne und die hysterischen Schakale, fast als wollten sie mit ihrer Stimme die Einsamkeit noch verstärken, indem sie ihr eine Beziehung, ein Maß anboten. Zuweilen auch das entsetzliche Schluchzen eines Nachtvogels, der herbeigeflogen kam und sich auf einem Baum der Lichtung niederließ und den ich nicht zu verscheuchen vermochte. Doch diese Dunkelheit war immer noch besser als die Hütte, in der ich auf schlimmere Überraschungen gefasst sein
musste. In jener Nacht legte ich mich neben das Feuer und betrachtete die Sterne, die sehr hell waren, doch gleichsam drohend und zu zahlreich, als dass ich die einzelnen Sternbilder hätte entdecken und erkennen können.
    Ich dachte, dass dies die Einsamkeit war, die mich erwartete. Dies war die leere und unerbittliche Einsamkeit, die Nacht, der ich entgegensehen musste, da ich beschlossen hatte, sie nicht zu unterbrechen. Sie schreckte mich nicht. Vielmehr schreckte mich die Hoffnung, welche aufzusteigen begann, zuerst scheu, dann jeden Tag anmaßender, denn sie war das Zeichen, dass ich noch heftiger leiden würde, wenn ich einmal fort war aus diesem Tal, wo meine Krankheit unbeachtet blieb. Es schreckte mich zu denken, dass ich um jeden Preis überleben wollte und dass ich bereits die Schuld für diesen Entschluss auf«sie»abwälzte, auf meine Frau. Ja, die Schuld: Ich konnte es nicht anders nennen. Ich hatte mich großmütig entschlossen, für«sie»zu leben, ich liebte sie, und ich wollte sie wiedersehen; doch ich war nicht mehr sicher (jetzt, da der erste unmittelbare Drang, zu ihr zu gelangen, sich beruhigt hatte), ob sie für mich leben, mich weiterhin lieben wollte. Sie um ihren Schutz zu bitten: Was das angeht, so war ich jeden Tag mehr geneigt zu glauben, dass eine kindliche Angst mir diesen Gedanken
eingab. Warf ich nicht vielleicht die Karten durcheinander, verwechselte ich nicht meinen Lebenswillen mit der Notwendigkeit, sie wiederzusehen und ihr nahe zu sein? Sie war durchaus nicht das Ziel, sondern ein Bezugspunkt, der vertrauteste, und daher kam es wie von selbst, dass ich ihr einen Wert beimaß, den sie nicht hatte. Jetzt wollte ich sie mit hineinverwickeln, im Namen einer Liebe, die ich mir besser verbieten sollte, anstatt sie mit der täglichen Lektüre ihrer Briefe zu nähren oder mit den Erinnerungen an das gemeinsame Leben (ein Jahr, und dann die Abreise), mit dem Andenken an jenes Jahr, das voller Ereignisse zu sein schien, voll von gesagten und gehörten Worten, und voller Gebärden.
    In meinem Notizbuch hatte ich die Tage jenes Jahres in vielen kleinen Spalten eingezeichnet und dann versucht, mich an die Ereignisse zu erinnern, die ich daneben aufschrieb. Nicht die großen Ereignisse, sondern jene, die sich wie von innen her dem Gedächtnis einprägen und die man nicht leicht an einen Tag oder eine Stunde binden kann, gerade weil sie sich unbewusst festsetzen und alle anderen verdunkeln mit ihrer unfassbaren Bedeutung. Damals jener Aufbruch in der Morgendämmerung, oder«ihre»Hand an der Wand unseres Zimmers. Wann hatte ich diese Hand gesehen? Ja, der Monat fiel mir wieder ein,
aber der Tag war dann ungewiss. Und es gelang mir nicht, zu entscheiden, ob es im August oder im September gewesen war, als sie sich, ohne sich auszukleiden, ins Wasser geworfen und mir gewinkt hatte, ihr zu folgen.
    Und die Fotografie von ihr, die immer lächelte, als sei nichts geschehen?
    Ich sah sie lange an, stundenlang, bis das Bild für mich jede Gewissheit verlor und ich nur zwei Augen zu sehen vermochte, eine Nase, einen Mund, die mir vorkamen, als gehörten sie zu einem schon verlorenen Gesicht. Auch hier kehrte ich vielleicht die Situation um:«Sie»lebte, und ich versuchte, sie tot zu glauben, um sie zu mir zurückzuholen.
    Wenn ich von diesem Stück Karton aufblickte, sah ich Johannes, der seine Pfähle zurechtschnitzte; und an der Art, wie er sein Messer gebrauchte, erkannte ich plötzlich mit Unwillen, dass er dabei mit mir ins Gericht ging.
    Mein Wortschatz war inzwischen sehr dürftig geworden und würde immer noch dürftiger werden: wenige Worte für alle Betätigungen, die mir gewährt waren. Essen, schlafen, schauen, hoffen. Essen: wogegen mein Gaumen rebellierte; schlafen: wobei

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