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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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aus, meinen Kopf auf seinem Rücken.
    Sie würde mich nicht verlassen, das konnte ich schwören, und vielleicht würde sie sogar Worte erfinden, um die Bedeutung dessen, was ich getan hatte und was ich nicht hatte tun können, zu verringern. In ihrer Ruhe würde ich sogar meine Unschuld wiederfinden; doch eines Tages würde sie erwachen und nicht mehr fähig sein, diesen allzu langsamen Schiffbruch mit anzusehen. Und dann? All die Augenblicke unserer Glückseligkeit erschienen mir sinnlos, ich konnte sie nur so einschätzen wie die Höflichkeiten des Henkers, der sich mit dem Verurteilten über das Wetter unterhält, bevor er ihm die Hände bindet und sich entschuldigt, wenn er zu fest anzieht. Es waren Augenblicke, die mir nicht mehr gehörten und an die ich mich jetzt nicht erinnern durfte. Vergebens, an jenen Strand zurückzudenken, oder an das erste
Mal, als wir entdeckten, dass wir uns liebten, und an all die Orte und an all die Daten und an die Seide ihrer Haut und die Müdigkeit ihrer Augen früh am Morgen. Mein Verlangen, sie wiederzusehen, war so feige, dass selbst diese Gedanken mich trösteten; trotzdem nahm ich das Notizbuch, riss die Seiten heraus, auf denen ich die Tage des Jahres eingetragen hatte, und warf sie ins Feuer. Ich sah den Blättern zu, wie sie sich zusammenrollten, und ich bereute schon meinen Entschluss (ich konnte die Spalten wieder neu einzeichnen, das war alles), als ich weit entfernt im Tal das Geräusch eines Lastwagens hörte.«Gehn wir», sagte ich zum Maultier,«und schaun wir mal nach.»In der Entfernung war dieses Geräusch nicht viel lauter als Johannes’ Schnarchen. Das Auto fuhr zur Hochebene hinauf, wie ein Brummer zum oberen Rand der Fensterscheibe hinaufkrabbelt und einen Ausgang sucht. Es war ein beharrliches und scharfes, wenn auch schwaches Geräusch. Ich dachte an den Major, an jenen Streich, der nicht gelungen war, an seinen ironischen Gruß (der mich dennoch gerührt hatte). Ein solches Geräusch hatte das Leben; der Lastwagen fuhr hinauf und wusste nichts von mir; weitere Lastwagen würden zum Hochland hinauffahren und nichts von mir wissen. Sie konnten mir jetzt keine Hilfe mehr sein.

    Ich erreichte den Rand der Lichtung und starrte in die Dunkelheit des Tals, das vom Himmelsgewölbe nur schwach erhellt war. Ich sah nichts, und das Geräusch entfernte sich, bis es gänzlich verschwand. Dann erspähte ich auf dem Grat das Scheinwerferlicht des hinauffahrenden Lastwagens. Gegen die düstere Wand sah es aus wie das Zündholz des Nachtschwärmers, der das Schlüsselloch sucht. Das Licht bewegte sich langsam und stieg den Grat hinauf, immerfort suchend, dann drehte es um und verschwand. Nur das Geräusch von vorher blieb, aber dumpfer, oft so schwach, bis es ganz still war, dann wieder lauter und zeitweise fast nah. Ich hörte, wie geschaltet wurde. Dann verflog das Geräusch, ja, es brach sogar plötzlich ab. Vielleicht hatte der Lastwagen die Hochebene erreicht und fuhr jetzt auf die Küste zu.
    Ich blieb allein, nicht einmal jenes Motorengeräusch war zu vernehmen, und eilte zur Hütte zurück. Ich konnte nicht schlafen. Ich nahm den Uniformrock aus dem Tornister, kehrte die Taschen um und suchte zwischen den Wollfusseln nach ein paar Tabakfäden. Stattdessen fand ich in der Brusttasche zwei Eintrittskarten eines Kinos in Neapel. Am Abend vor meiner Abreise waren wir dorthin gegangen.
    Nun löste sich alles in mir, und als ich diese Papierfetzen
küsste, die mir mehr als jedes andere sonst von ihr sprachen, ließ ich meinen Tränen freien Lauf. Ein Zittern überkam mich, das mich erleichterte. Auch«sie»hatte an jenem Abend im Dunkel des Kinosaals an meiner Schulter geweint. Ich ergriff die Jacke und presste meinen Mund auf den Ärmel, um ihn zu küssen und auch um mein Schluchzen zu ersticken. Vergebliche Vorsichtsmaßnahme, denn Johannes war aufgewacht und schimpfte, ja, er begann in seiner Sprache zu reden, und gewiss verfluchte er mich, weil ich seinen Schlaf gestört hatte.
    Ich stand auf, brach einen trockenen Zweig ab und näherte mich Johannes’ Hütte; er redete immer weiter, und ich begann mit dem Zweig gegen meine Stiefel zu schlagen. Johannes schwieg.
    Ich warf den Zweig fort, ging zum Feuer und legte mich bäuchlings auf die Jacke; ich dachte daran, dass sie von«ihren»Tränen durchtränkt war.

5
    Am nächsten Tag beschloss ich fortzugehen. Ich merkte, dass diese zehn Tage der Muße genügt hatten, mich feige zu machen, so dass mir der Weg nach

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