Alles hat seine Zeit
Neugier stillte.
Ich wollte es nicht lesen, es war mir zu widerwärtig, denn deutlicher als in Johannes’ Augen oder in der Munterkeit des Maultiers stand meine Verurteilung in dem Buch geschrieben. Einmal gelang es mir jedoch, das Unbehagen zu überwinden: Ich las darin und erfuhr, dass die vielen Beschwerden, die mich in der letzten Zeit quälten, ebenfalls Symptome dieser Krankheit waren.
Ich las aufmerksam, wobei ich versuchte, die wissenschaftlichen Ausdrücke zu verstehen und zu einer Schlussfolgerung zu kommen. Die Schlussfolgerung bestand darin, dass man mich zwar behandeln konnte, es waren vielerlei Behandlungen möglich, aber dass keine mich mit Sicherheit heilen würde. Vielleicht würde ich sogar genesen können, es waren Fälle von Heilung vorgekommen; nach zehn Jahren aber würde ich dann eines Morgens mit einer leicht veränderten Hand erwachen, die etwas verfärbt war, nur etwas. Und wenn ich sie berührte, würde sie sich wieder so anfühlen, als gehöre sie nicht mir. Ich konnte zwar hoffen, das Übel einzuschläfern, aber nicht, es auszurotten. Nur die Einsamkeit würde mir bleiben.
Ich las gerade, als ich Johannes sah: Auch er hatte
sich auf den Rand des Hügels gesetzt und betrachtete das Tal. Es war das erste Mal, dass ich ihn aufmerksam das Tal betrachten sah, und ich wunderte mich darüber. Ich hatte gemeint, Johannes sei unempfänglich für die Schönheit einer Aussicht und vielleicht sogar unfähig, sie überhaupt zu sehen. Denn sein unverbildetes Auge war es sicherlich nicht gewöhnt, so viel und verschiedenerlei zu einem Ganzen zu fügen, das der Beachtung wert wäre. Er vermochte wohl einen Baum zu sehen, eine Hütte, das Hochland, den Fluss, den Buschwald, aber gewiss nicht, sie als Teil einer Landschaft zu betrachten. Seiner auf Nützlichkeit ausgerichteten Sichtweise entging das Überflüssige; und dennoch betrachtete er jetzt das Tal, und ich merkte, dass er es als ein Ganzes sah und dass sein Blick auf allen Dingen verweilte und sie betrachtete. Ein Maler würde nicht anders schauen.
Gelegentlich kniff er die Augen zu oder neigte den Oberkörper, aber gleich nahm er seine reglose Haltung wieder ein. Ich war so fassungslos darüber, dass ich, als Johannes sich umwandte und mich kopfschüttelnd ansah, nicht die geringste Handbewegung machen und auch nicht die Augen von ihm abwenden konnte. Auf einmal fiel mir ein, ich müsste ihn nach Mariam fragen, ob sie wirklich krank gewesen war. Ich ergriff die Gelegenheit, als Johannes den Blick auf meine
Person richtete und sie - vermutlich - als einen Teil der Landschaft betrachtete. Ich sagte, mir gefalle diese Gegend sehr, und da er keine Antwort gab (ja, ich hatte wirklich sein ästhetisches Urteilsvermögen überschätzt), fragte ich ihn, ob er schon lange hier wohne.
«Seit einem Jahr», sagte er und machte dabei eine Handbewegung, als wollte er die Erinnerung an die verflossene und nunmehr nutzlose Zeit hinter sich werfen.
«Und wohnten viele Leute bei dir?»
«Wir waren neun», erwiderte er.
Ich ließ das Schweigen verstreichen, ein Schweigen, das Johannes’ Misstrauen zerstreuen sollte, und dann fragte ich beiläufig:«Wie viele Frauen?»
Johannes wandte die Augen nicht vom Tal ab und sagte:«Zwei.»
Ich fürchtete, wenn ich jetzt nicht sofort redete, könnte Johannes den Zweck dieses Gespräches ahnen. Ganz bezaubert betrachtete er das Tal, und wieder schien es mir, als ob er es sehe. Ich fragte:«Wurden sie auch umgebracht?»
«Ja, umgebracht», sagte er.
«Also hat sich keine gerettet?»
«Keine.»
Ich setzte mich neben Johannes und schüttelte den Kopf, um ihm meine Sympathie zu bezeugen.
Da ich spürte, dass er in seine ungewohnte Betrachtung versunken war, sagte ich zögernd:«Elias hat mir oft von einer jungen Frau erzählt, von einer gewissen Mariam.»Ich sagte den Namen leichthin, so wie man den Namen eines sehr vertrauten Menschen sagt. Und dann fügte ich hinzu:«War sie nicht aus diesem Dorf?»
Johannes sah mich kaum an.«Nein», sagte er,«sie war nicht aus diesem Dorf.»
Warum leugnete er so offenkundig? Vielleicht schmerzte es ihn, das einzugestehen, was er vermutete; nämlich dass Mariam, ohne etwas zu sagen, vor dem Massaker weggelaufen war, um aufs Hochland zu gehen, zum«schönen Leben». Ich sah Johannes wieder in den Straßen des Städtchens, an den Türen der gastfreundlichen Häuser, und ich erinnerte mich an seine Augen, wie sie die Dunkelheit des Zimmers durchforschten.«Sonderbar», sagte
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