Alles hat seine Zeit
verweilen und dem fließenden Wasser zuzuschauen, war mir ein Trost. Aber Johannes lief auf der Lichtung umher, ohne mich zu sehen, und verspürte keineswegs das Bedürfnis, wie ich es verspürte, den geringsten Vorwand, den das Leben dort unten bot, zu benutzen, um sich zu unterhalten. Sein natürlicher Zustand war nunmehr die Einsamkeit, und vielleicht hatte ihm der Vorfall die Gelegenheit geliefert, sich wieder darin zu versenken und mich auf die einzige Art und Weise, von der er wusste, dass sie wirksam war, zu bestrafen. Stundenlang blieb er dem Dorf fern, und das Maultier folgte ihm. Dass sie nicht zum Hochland oder zur Brücke gingen, war gewiss, da ich immer darauf bedacht war, ihnen ein gutes Stück weit nachzugehen, wobei ich zu vermeiden suchte, dass sie mich entdeckten. Vielleicht gingen sie ins Gehölz, um sich dort auszuruhen, während sie mich ganze Nachmittage lang in angstvoller Unruhe zurückließen; und oft war ich drauf und dran, meiner Angst durch die Flucht ein Ende zu machen. Doch jedes Mal,
wenn ich mich anschickte, den Tornister zu packen, beruhigte ich mich mit irgendeiner neuen Überlegung. Inzwischen redete ich laut mit mir selbst, gab mir spaßige Ratschläge und lachte sogar; und vielleicht verhinderten diese flüchtigen Selbstgespräche, dass ich verrückt wurde oder zum nächsten Kommando dort oben lief und sagte:«Da bin ich.»Wenn Johannes von seinen Ausflügen zurückkehrte, wurde mir besser, und ich ging wieder in meine Hütte.
An diesem Tag stand der Alte vor meiner Hütte und sah mich kommen. Er blickte mich an, daran war kein Zweifel. Ich glaubte, dieses ungewöhnliche Verhalten hänge mit Elias’ Rückkehr zusammen, er wolle mit mir über das Kind sprechen und die Gelegenheit nutzen, sich wieder auszusöhnen. Ich beschleunigte meine Schritte und ging zu ihm. Ich wartete, dass er als Erster spräche, aber er sprach nicht. Als ich ihm zulächelte (ich wollte über die Türschwelle treten und die Vögel verscheuchen), machte er eine kurze Grimasse und zuckte die Achseln. Ich war nicht fähig, die erste Stufe hinaufzusteigen, und schaute Johannes an. Er stand da, mit beiden Händen auf seinen langen Stecken gestützt, wie ein Lanzenritter in Ruhestellung, und starrte mich immerfort an. In der Finsternis sah ich nur eben seine gelblichen, wässrigen Augen. Er schien sich durchaus keine
Gedanken zu machen über mein Erstaunen, im Gegenteil, er wurde sogar immer unverschämter, und auf einmal zwinkerte er mir zu. Die Dunkelheit mag mich getäuscht haben, doch er zwinkerte mit dem Auge, und nicht etwa, um eine Fliege zu verscheuchen. Ein-, zwei-, dreimal zwinkerte er mir zu.
«Johannes», schrie ich,«hör auf!»
Der Klang meiner Stimme rüttelte ihn auf. Ich sah ihn zittern, wie von plötzlichem Fieber gepackt. Dann stieß er ein rasendes Gebrüll aus, ein Gebrüll, das mir das Blut erstarren ließ. Es war das Brüllen, das ihm seit langer Zeit, seit Jahrhunderten, in der Kehle steckte. Er hob den Stock, den er mit beiden Händen gepackt hielt, in die Höhe und stürzte sich auf mich. Ich konnte gerade noch rechtzeitig ausweichen, bevor er mir den Schädel spaltete. Der Schlag ging zum Teil auf meine Schulter nieder; Johannes fiel zu Boden, von seiner eigenen Wucht mitgerissen, und sein Stecken zerbrach. Er sprang wieder hoch, und jetzt flüchtete ich auf die Lichtung. Ich hörte, dass er mir auf den Fersen war, brüllend. Ich hob einen Pfahl auf und wehrte damit den Alten ab. Sofort ergriff auch er einen Pfahl - ich konnte ihn nicht daran hindern - und fiel über mich her. Ich wehrte mich, aber sein Brüllen, das Brüllen eines Kriegers, der den Tod beschimpft und herausfordert,
nahm mir allen Mut. So hatte ich seine Brüder sich auf das Maschinengewehr stürzen sehen mit Stöcken, die sogar weniger stark waren als seiner - und nicht immer hatte das Maschinengewehr sie aufgehalten. Meine ganze Fechtkunst versagte vor diesem Besessenen, und da begriff ich: Wenn ich mich darauf beschränkte, mich nur zu verteidigen, würde ich noch am selben Tag im Nebenfluss landen. Da begann auch ich zu brüllen; ein Brüllen, das ich in den tiefen Ängsten fand und das mich entsetzte, mir jedoch eine neue und berauschende Kraft verlieh. Als Johannes mich zum zweiten Mal auf die Schulter traf (vor Schmerz musste ich den Atem anhalten), fiel ich über ihn her und hieb ihm mit all meiner Kraft den Pfahl auf den Kopf. Er hielt betäubt inne, dann brach er zusammen, das Brüllen wurde zur Klage, und
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