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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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hat? Ich würde sie in dieser Waldung lassen, sie hatte es verdient.
    Die Frau sah die Uhr gebannt an. Es war zu viel, das Angebot überstieg jede ehrliche Fähigkeit, es abzulehnen, und ihr Bedauern über mein plötzliches Fortgehen fiel in sich zusammen angesichts dieses ungeahnten Opfers. Es war eine spottbillige Uhr, die pünktlich stehenblieb, wenn ich sie am nötigsten brauchte. Eines Nachts, als ich hätte wach bleiben müssen, ließ sie mich im Stich. Gab’s eine bessere Gelegenheit, jetzt sie im Stich zu lassen?
    Ich band ihr die Uhr ums Handgelenk, und ihre Brust atmete keuchend in einer tiefen Freude, einer heftigen Bangigkeit. Jetzt, glaube ich, ist es mir gelungen zu begreifen, warum diese Frau so war. An jenem Tag, ja sogar in jenen Stunden, überschritt sie die Schwelle der Jugend, ließ das Alter der Heranwachsenden hinter sich, und ihr Gebaren hatte etwas sowohl von dem einen wie
von dem anderen Alter. Zuweilen träge, dann mit einem Mal wieder lebhaft, voller Neugier, die gestillt werden wollte. Und einen Augenblick später wieder sehr fern, ihre zweitausend Jahre fern, und erstaunt, sich lebendig neben einem Mann zu befinden, der in braunes Leinen gekleidet war. Während ich ihr die Uhr umband, schaute sie mir lange in die Augen und neigte den Kopf, und ich hatte das unangenehme Gefühl, als stecke ich ihr den Ehering an den Finger.
    Wollte sie nichts weiter? Jetzt konnte ich gehen.
    Aber ich täuschte mich. Die Frau hatte auch nicht einen Augenblick lang an die Möglichkeit geglaubt, dass ich sie auf diese Weise belohnen würde. Im Gegenteil, sie hatte geglaubt - zu spät merkte ich es -, diese Gegenstände seien das Pfand, welches ihr versicherte, dass ich nicht fortgehen würde. Und als sie sah, dass ich wirklich fortging, stieß sie einen Schrei aus, der mich bis ins Innerste verwundete. Sie war zu mir gelaufen und hielt mich am Arm fest, sie lehnte sich mit dem ganzen Körper an mich, und noch einmal fühlte ich ihre Brust, die sich frei in der Tunika gegen meinen Arm drückte. Jetzt redete sie, obschon ich nicht ein Wort von ihrer leidenschaftlichen Rede erfasste. Um sie zum Schweigen zu bringen, nickte ich, ja, ich würde bleiben, noch
eine Weile, die Sonne stand immer noch hoch; es genügte schließlich, wenn ich vor Einbruch der Dämmerung bei der Brücke ankäme.
    Ich ging zu den Bäumen zurück, ließ mich führen, und es fing wieder an. Von neuem die Bestürzung, in jenen jahrhundertealten Strom zu fallen, von neuem die Freude einzutauchen und die Gewissheit, dass es nutzlos sei hinauszusteigen. Nachher schlief ich wieder ein. Und noch einmal über meinem Kopf ihr Busen, der mich bewachte.

5
    Als ich aufwachte, war die Frau fort. Meine erste Regung war erbärmlich; ich durchwühlte den Tornister, um nachzusehen, ob sie etwas weggenommen hatte, aber es war alles da.
    Die Luft hatte sich verändert, nicht mehr die Hitze von vorher, sondern gleichsam ein Sichausdehnen der Erde unter dem ersten abendlichen Hauch: Die Sonne näherte sich dem Horizont, und die Geräusche des Tals wurden dumpfer. Ich war erschöpft, dieser Schlaf hatte meine ganze Müdigkeit entfesselt, anstatt mich zu erfrischen; ich spürte, wie meine Lider schwer waren, mein Mund bitter, mein Körper zerschlagen. Ich lief zum Tümpel, um mich zu waschen, und wechselte
das Hemd, das mit Schweiß und Staub verklebt war. Ich hatte es eilig wegzukommen, doch jetzt verdross mich das Fortgehen der Frau, als ob all das, was geschehen war, eine Ausgeburt meiner Phantasie gewesen wäre, die der allzu langen Keuschheit zuzuschreiben war.
    Doch ich musste gehen, zu viele Raben saßen in diesen Ästen. Ich würde meinen Schlaf bei der Baustelle fortsetzen, und schon überlegte ich mir eine Ausrede, die ich der Neugier der Arbeiter vorsetzen könnte. Gleich fiel mir eine ein: die Brieftasche verloren, ich wäre ein paarmal den Abkürzungsweg hinauf- und hinuntergelaufen. Am frühen Morgen würde mich dann der Lastwagen aufs Hochland bringen nach Aksum, nach Adua und dann in die alte Kolonie 4 , wo es ein Bett, ein Restaurant, ein Buch gäbe. Und vielleicht eine Frau? Nein, mein Urlaub hatte mit diesem Kapitel bereits abgeschlossen; ich empfand sogar einen gewissen Groll gegen mich selbst, und als ich im Tornister das liebe Päckchen mit den Briefen fühlte, wog ich es beruhigt in der Hand: Dieser Tag würde rascher in der Erinnerung ausgelöscht sein als wahrscheinlich viele andere. Und dennoch, wenn die Frau wieder auftauchte

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