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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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der Doktor sich auf den Weg zur Baracke gemacht. Er ging vor mir her, vertraute sich mir an. Er war so ruhig, dass ich ihm folgte.
    Nichts war mir mehr wichtig, sollten sie mich doch holen. Immer bei Sonnenuntergang überkam mich dieses Misstrauen, dieses Vorgefühl des Todes und die Gewissheit, dass es unnütz ist zu kämpfen. Ich folgte ihm stumm, wie ein Gefangener. Er ging in die Baracke, um sich auszukleiden, schrieb irgendetwas auf ein Blatt Papier, legte das Koppel ab. Dann sah ich, dass er die Pistole aus der Tasche herauszog. Da floh ich.
    Ich lief ein gutes Stück den Pfad entlang, ohne mich umzuwenden, ich duckte mich hinter einen Baum. Das Blut pochte mir in den Schläfen; ich dachte, wenn er Meldung über mich erstattet, ist es das Ende für mich. Wenn sie mich einmal geholt hatten, war es aus mit Urlaub und Heimkehr.
    Jetzt musste ich ruhig bleiben. Ja, ich war sogar ruhig. In der Baracke war niemand außer dem Doktor. Der Soldat war in der Stadt, und er würde
nie diesen Zettel zum Kommando bringen. Er durfte ihn nicht hinbringen. Und vor allem musste man Nachforschungen vermeiden oder sie fehlleiten. Mir fielen die Petroleumflasche und der Lappen wieder ein. Richtig: während er die Pistole reinigte.
    Der Doktor suchte mich. Vielleicht dachte er, ich sei dort in der Nähe, und er kam mir ungeduldig vor. Als er mich rief, gab ich Antwort, und da schien er beruhigt zu sein.«Habe ich Ihr Buch dort liegenlassen?», schrie ich.
    «Nein», erwiderte er.
    «Es muss mir aus der Tasche gefallen sein, aber ich suche es später.»Und ich kehrte um. Ich war ruhig, in einem Maße, dass ich mich selbst darüber wunderte. Ich zog die Waffe hervor und dachte, ich müsse bis auf zwei Meter zu ihm hin und auf den Kopf zielen; ich durfte ihn nicht verfehlen. Ein einziger Schuss; man tötet sich nicht aus Versehen mit zwei Schüssen. Der Doktor hatte sich gesetzt, und schon verschwand er, wie aufgesogen vom Grau der Dämmerung.«Vielleicht würde er an meiner Stelle dasselbe tun», dachte ich.«Wenigstens will ich es hoffen.»
    Unterdessen war ich nahe bei der Baracke, aber der Doktor hatte mich nicht gehört. Ich hatte mich sehr leise genähert, gerade so wie ein geübter Mörder, der seine Bewegungen nicht mit
mehr sorgfältiger Aufmerksamkeit ausführt, als sein Beruf es erfordert. Ich war ganz in seiner Nähe, doch er konnte mich nicht sehen, ich stand hinter einem Baum versteckt.«Oberleutnant», sagte der Doktor. Er hatte den Kopf erhoben und sah mit starren Augen in meine Richtung: Da schoss ich schnell.
    Ich sah ihn zusammenfahren, er hatte sich einen Augenblick zuvor bewegt. Er, der tagelang in seinem Liegestuhl lag, ohne den kleinen Finger zu rühren, hatte sich bewegt!
    Rasch drückte ich noch einmal ab, aber jetzt schoss die Pistole nicht. Ich drückte nochmals, sie schoss nicht.
    Der Doktor stand aufrecht da, dann lief er zur Baracke mit jener unvermuteten Gewandtheit, die nur den Faulenzern eigen ist. Ich flüchtete zur Straße hin, warf mich in einen Graben, dann begann ich wieder zu laufen, und querfeldein erreichte ich die Umfahrungsstraße, so dass ich nicht gezwungen war, in die Stadt hineinzugehen. Ich blieb stehen, als ich sehr weit weg war; ich hörte kein verdächtiges Geräusch, vielleicht hatte der Doktor darauf verzichtet, mich zu verfolgen, oder hatte nie daran gedacht. Wahrscheinlich gab es ein Telefon in seiner Baracke.
    Ich saß ohnehin in der Falle. Man würde mich holen. Erst jetzt fiel mir wieder ein, dass die Pistole
nicht geschossen hatte. Mit zitternden Händen untersuchte ich sie. Das Magazin fehlte. Aber wieso? Ich erinnerte mich nicht. Mit einem Mal brach ich in Lachen aus, aber es war ein trockenes, schnelles Lachen, das mich schüttelte und mich zwang, mich ins Gras zu legen. Ich hatte das Magazin auf der Kiste liegenlassen, neben der Fotografie von«ihr»und der Petroleumflasche, bei meinem lächerlichen Selbstmordversuch. Bald merkte ich, dass ich schluchzte; es waren langgezogene Klagelaute, die ich nicht zu unterdrücken vermochte und die mich betäubten.«Mein Selbstmord ist vollkommen gelungen», dachte ich immer wieder.
    Ich begann von neuem zu laufen, auf das Lager zu. Ich musste mir ein Alibi verschaffen, wenigstens das, oder fliehen. Ich musste überlegen, aber sehr bald wurde mir klar, dass es keine Pläne gab, die nicht die Flucht oder geradezu die Fahnenflucht in Betracht zogen. Was würde ich beim Verhör antworten? Ich konnte abstreiten, geschossen zu haben,

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