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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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einen Skorpion betrachtet, der den Weg überquerte. Er war ruhig.
    «Es ist irgendetwas faul in diesem Land», sagte ich. Ich dachte an den Leutnant, der ebenfalls«wusste».«Es ist ein ansteckendes Imperium», fügte ich hinzu, und es gelang mir zu lächeln. Ich musste mit ihm sprechen, ihm meine Sicherheit aufdrängen.

    Er machte eine betrübte Gebärde und sagte, Imperialismus, ebenso wie die Lepra, heile man mit dem Tod. Er wollte mein Spiel mitspielen, aber in seinen Augen sah ich plötzlich das Mitleid, dass die Krankheit mich bereits zerstörte. Meine Kräfte verließen mich; ich hatte den Fehler begangen, nicht ins Lager zurückzukehren, und ich hatte seit dem frühen Morgen nichts gegessen. Als ich mich an den Doktor anlehnte, wich er einen Schritt zurück, als hätte ich ihn schlagen wollen, dann errötete er und machte ein finsteres Gesicht. Ich bewunderte ihn. Seine Beleibtheit, von einem kindlichen und blond schimmernden Haupt gekrönt, flößte mir sogar den Glauben ein, dass sich alles in einen Scherz auflösen würde. Wir hatten uns bereits eine gegenseitige Freundschaft zugestanden, und wir wussten auch, dass ihr Ende näher rückte. Beide zögerten wir, ehe wir den irreparablen Schritt taten, der uns für immer trennen würde.
    Zu den Vorwürfen, die ich mir machte, weil ich unbedacht gewesen war, gesellte sich jetzt noch das Bedauern darüber, dass ich einen Freund kennengelernt hatte und ihn in demselben Augenblick verlieren musste, in dem ich ihn entdeckte. Er dachte dasselbe, stelle ich mir vor, aber er vermochte es nicht, seine Pflicht zu vernachlässigen. Jeder von uns hatte seine Pflicht gegenüber dem
anderen zu erfüllen.«Los», dachte ich,«warum rufst du nicht diesen Soldaten, der da vorbeigeht, warum lässt du dir nicht helfen und dich ins Krankenhaus bringen? Du musst entscheiden.»
    Der Soldat ging pfeifend davon.
    Ich fing wieder an zu sprechen; immer deutlicher wollte ich ihm zeigen, dass ich nicht erregt war, aber er wich meinem Blick jetzt aus und schien in einen schmerzlichen Gedanken vertieft zu sein. In diesem Augenblick fühlte ich, dass ich ihn brüderlich liebte. Alles war schon gesagt worden, wir würden uns nur wiederholen können, und wir wagten nicht weiterzugehen, denn wir fühlten uns unfähig zu einem Opfer. Ich verabschiedete mich von ihm:«Vielen Dank, Doktor.»Ich hätte ihn umarmen mögen: Jetzt war es an ihm zu entscheiden, ob nur ich der Verurteilte war.
    «Sie kommen also nicht mit in die Stadt?», fragte er.
    «Ich möchte lieber ein bisschen querfeldein spazieren gehen», und ich sah ihn gerade an. Ich bot ihm den letzten mildernden Umstand an: meine Ruhe. Ich beschwor ihn, nicht an meinen Aussatz zu glauben, da er mich doch so ruhig sah, und jeden Zweifel von sich zu weisen.
    Der Doktor dachte einen Augenblick nach und sagte dann das, was ich befürchtete:«Eigentlich will ich auch nicht in die Stadt. Es ist schon spät.
Warum begleiten Sie mich nicht und essen mit mir zu Abend?»
    Es war kein Befehl, sondern eine Einladung. Eine Aufforderung, mein Leiden anzunehmen und auf einen hoffnungslosen Kampf zu verzichten. Ich konnte es nicht annehmen, denn ich weigerte mich, an mein Unglück zu glauben, wenn ich nicht vorher aus diesem Land hinauskäme. Ich war nicht krank, und niemand hatte das Recht, sich zu vergewissern, ob ich krank sei oder nicht. Der Doktor wiederholte seine Aufforderung mit leiser Stimme, er wollte gleichgültig erscheinen. Er versuchte Heiterkeit vorzutäuschen, und diese schlecht aufgeführte Komödie machte mich unwillig. Warum stellte er mich nicht vor die vollendete Tatsache? Das war’s, seine unverschämte Faulheit wich von ihm, und er benahm sich jetzt wie ein Bruder, aber leider wie ein jüngerer Bruder. Zu wissen, dass ich stärker und entschlossener war als er, nahm mir allen Mut. Er lud mich zum Abendessen ein, obwohl er wusste, dass er hinterher Besteck, Gläser, Geschirr vernichten musste, aber er lud mich ein, um mich festzuhalten und unterdessen jemanden vom Kommando oder vom Krankenhaus zu rufen. Immerhin, das letzte Abendmahl unserer kurzlebigen, unsicheren Freundschaft. Warum ging er da ungeduldig um mich herum und vermied es stets, mich anzusehen?
Er wusste, dass er die undankbare Rolle spielte, und bat mich dafür um Entschuldigung, nicht ahnend, dass ich schon bereit war, Schlimmeres zu tun, ohne mich dazu gezwungen zu fühlen.«Also gut», dachte ich,«ich werde der Stärkere sein.»Aber in demselben Augenblick hatte

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