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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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dass mein Schweigen das deutlichste aller Geständnisse war. Ich stand reglos da, wie gebannt von seinen zu fetten Händen, die sich abmühten, das Papierchen zusammenzudrücken. Fäden von Tabak fielen auf sein Hemd. Es war jetzt eine unerträgliche Tortur. Seine Finger tasteten, aber entweder war es zu viel Tabak oder zu wenig, und zuletzt riss das Papier. Ich bot ihm meine Zigarettenschachtel an. Er lehnte ab: Er rauche nur milden Tabak. Darauf sagte ich, ich würde die Odyssee meines Helden nicht bis zum Tod verfolgen.«Es genügt mir, ihn verurteilt zu wissen.»Dann, ruhiger, so als läge die Sache mir nicht am Herzen:«Ich könnte auch eine andere Krankheit wählen. Aber welche?»Und ohne ihm für eine Antwort Zeit zu lassen, sagte ich:«Gut, wichtig ist mir vor allem zu wissen, wie der Ingenieur erfährt, dass er Aussatz hat.»
    Hier merkte ich, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Ernst und mit plötzlich brüderlicher Stimme sagte er:«Ich nehme an, er wird sich untersuchen lassen.»
    «Aber vorher wird er Symptome haben», erwiderte
ich.«Und um das herauszufinden, wird mir Ihr Buch nützlich sein. Ich werfe einen Blick hinein und bringe es Ihnen morgen zurück.»
    «Nicht nötig, ich schenke es Ihnen», sagte er rasch. Mit einer unhöflichen Handbewegung warf er mir das Buch hin. Nur einen Augenblick lang blickten seine schläfrigen Katzenaugen mich an, flüchtig, fast als fürchteten sie sich, lange auf meiner Person zu verweilen. Ich erkannte darin meinen eigenen Blick wieder, mit dem ich die beiden Mädchen angesehen hatte.
    Ich dankte dem Doktor. Jetzt stand er auf und ging auf die Baracke zu. Mit raschen Schritten trat er ein, und ich hörte ihn vor sich hin singen. Er zog sich die Schuhe an, nahm das Koppel mit der Pistole und fragte mich mit lauter Stimme, ob ich in die Stadt ginge. Er würde mich begleiten.
    Mir schnürte sich die Kehle zusammen. Er wollte Meldung über mich erstatten. Oder vielleicht auch nicht. Aber wenn er sich dazu aufraffte, sich zu bewegen, war es doch ein Zeichen, dass er Meldung erstatten wollte. Da er sich damit aufhielt, etwas auf seinem Tisch zu suchen, überkam mich der Drang zu fliehen, aber die Beine gehorchten mir nicht. Ich musste fliehen: Er würde mich nicht erschießen; er war nicht der Typ, der richtig zielt. Der Kopf schwindelte mir, und ich war nicht imstande, einen Schritt zu tun. Das
Büchlein war schon feucht vom Schweiß meiner Hände.
    Als er wieder erschien, machten wir uns auf den Weg, und während wir den Pfad entlanggingen, begann ich wieder zu sprechen. Mein Thema gefiel ihm; er riet mir allerdings, keinen klinischen Fall daraus zu machen. Ich konnte nicht umhin, seine Beherrschtheit zu bewundern.«Der Ingenieur», sagte er,«wird merken, dass er Lepra hat, und das genügt. Er wird Wunden haben, Pusteln, Blasen, indolente Knötchen.»Da ich schwieg, fügte er hinzu:«Knötchen, die bei der Berührung keinen Schmerz verursachen. Aber drücken Sie sich ungenau aus, ein guter Schriftsteller präzisiert nie.»
    Ich entgegnete, dass dies auch meine Absicht sei. Ich hatte eine trockene Kehle und sah kaum den Weg. In der Tasche war meine Hand zu Blei geworden.
    «Also», fuhr er fort,«überlassen Sie die Krankheit Ihres Helden»- und wieder dehnte er die Worte -«der Intelligenz des Lesers. Halten Sie sich vor Augen, dass Lepra manchmal zehn oder zwanzig Jahre braucht, bis sie zum Ausbruch kommt.»
    Ich fühlte, wie meine Beine einknickten, aber der Doktor fuhr absichtlich langsam fort und sagte, dass allerdings auch zahlreiche Fälle von rascher
Ansteckung beobachtet würden:«Drei Monate, einen Monat, sogar nur eine Woche. Bei jungen Leuten selbstverständlich. Die Infektion überträgt sich dann durch einen Schnitt, eine Wunde.»
    Irgendwer lachte hinter mir, weit weg. Ich wandte mich um, es war ein Soldat, der den Pfad entlangging und mit Kieselsteinen nach irgendeinem Tier warf, das sich im Gras versteckt hielt. Ich blieb stehen. Ich wollte, dass der Soldat weitergehe und uns allein ließe.«Es ist schrecklich», sagte ich.
    «Ja, es ist schrecklich», wiederholte der Doktor lächelnd.«Ich bin zwar kein Dermatologe, aber es ist trotzdem schrecklich.»
    Jetzt sah er mich starr an. Er sah gerade meine Hand an, die ich bis jetzt in der Tasche behalten hatte. Warum steckte ich sie instinktiv wieder in die Tasche? Er sagte nichts. Ja, einen Augenblick danach hätte ich sogar geschworen, dass er den Verband gar nicht bemerkt hatte; er hatte nur neugierig

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