Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alles ist erleuchtet

Alles ist erleuchtet

Titel: Alles ist erleuchtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
Vom Netzwerk:
besser, etwas Seltsames zu sagen, als gar nichts. »Ja«, sagte Augustine. »Es ist so dunkel«, sagte ich zu dem Helden, der mit seinem Beutel voll Erde zurückgekommen war. »Es ist schon sehr dunkel«, sagte er. »Ich bin es nicht gewöhnt, so weit weg von künstlichen Lichtern zu sein.« »Das stimmt«, sagte ich. »Was ist mit ihr passiert?«, fragte Großvater. »Sie ist entkommen, nicht?« »Ja.« »Hat jemand sie gerettet?« »Nein. Sie hat an hundert Türen geklopft, und nicht eine wurde geöffnet. Sie kroch in den Wald, wo sie einschlief, weil sie so viel Blut vergossen hatte. Sie wachte in der Nacht auf, und das Blut war getrocknet, und obwohl sie sich fühlte, als ob sie tot wäre, war nur das Kindchen tot. Das Kindchen hatte die Kugel gefangen und die Mutter gerettet. Ein Wunder.« Es passierte jetzt so schnell, dass ich es nicht verstehen konnte. Ich wollte es ganz verstehen, aber das hätte ein Jahr für jedes Wort gebraucht. »Sie konnte ganz langsam gehen. Sie ging zurück nach Trachimbrod und folgte der Spur ihres Blutes.« »Warum ging sie zurück?« »Weil sie jung war und sehr dumm.« (Sind wir darum zurückgegangen, Jonathan?) »Sie hatte Angst, dass man sie töten würde, nicht?« »Davor hatte sie wirklich überhaupt keine Angst.« »Und was ist dann passiert?« »Es war sehr dunkel, und alle Nachbarn schliefen. Die Deutschen waren schon in Kolki, darum hatte sie vor ihnen keine Angst. Obwohl sie auch sonst keine Angst gehabt hätte. Sie ging in Stille durch die jüdischen Häuser und sammelte alles, alle Bücher, alle Kleider, alles.« »Warum?« »Damit sie es nicht wegnahmen.« »Die Nazis?« »Nein«, sagte sie, »die Nachbarn.« »Nein«, sagte Großvater. »Ja«, sagte Augustine. »Nein.« »Ja.« »Nein.« »Dann ging sie zu den Leichen, die in einem Loch vor der Synagoge lagen, und nahm die Goldkronen und schnitt die Haare ab, so gut sie konnte, sogar die von ihrer Mutter, sogar die von ihrem Mann, sogar ihre eigenen.« »Warum? Wie?« »Und dann?« »Sie versteckte das alles im Wald, damit sie es wieder finden würde, wenn sie zurückkam, und dann ging sie weg.« »Wohin?« »Hierhin und dorthin.« »Wohin?« »Nach Russland. Und in andere Länder.« »Und dann?« »Dann kam sie zurück.« »Warum?« »Um die Dinge zu holen, die sie versteckt hatte, und um zu entdecken, was geblieben war. Jeder, der zurückging, sagte, dass sie bestimmt ihr Haus finden würde und ihre Freunde und sogar die Verwandten, die vor ihren Augen getötet worden waren. Man sagt, dass der Messias am Ende der Welt kommt.« »Aber es war nicht das Ende der Welt«, sagte Großvater. »Es war das Ende. Aber er ist einfach nicht gekommen.« »Warum ist er nicht gekommen?« »Das ist die Lehre, die wir von allem gelernt haben: dass es Gott nicht gibt. Es brauchte alle seine verborgenen Gesichter, um uns das zu beweisen.« »Und was, wenn das eine Probung Ihres Glaubens war?«, sagte ich. »Ich könnte nicht an einen Gott glauben, der einen so probt«, sagte sie. »Und wenn das nicht in seiner Macht liegt?« »Ich kann nicht an einen Gott glauben, der das, was passiert ist, nicht verhindern kann.« »Und was, wenn es nicht Gott, sondern die Menschen waren, die das alles getan haben?« »An die Menschen glaube ich auch nicht.«
    »Was hat sie entdeckt, als sie zum zweiten Mal nach Hause kam?«, fragte Großvater. »Dies«, sagte sie und bewegte den Finger über das Wandbild aus Dunkelheit. »Das hier. Es hat sich gar nicht verändert, seit sie zurückgekommen ist. Sie haben alles genommen, was die Deutschen übrig gelassen hatten, und dann sind sie zu anderen Schtetls gegangen.« »Ist sie weggegangen, als sie das gesehen hat?«, fragte ich. »Nein, sie blieb da. Sie entdeckte das Haus, das Trachimbrod am nahesten war, und alle, die nicht zerstört waren, waren leer, und sie versprach sich, dort zu leben, bis sie sterben würde. Sie holte alle Dinge, die sie versteckt hatte, und brachte sie in das Haus. Das war ihre Strafe.« »Für was?« »Dafür, dass sie überlebt hatte«, sagte sie.
    Bevor wir wegfuhren, führte uns Augustine zu dem Denkmal für Trachimbrod. Es war ein Stein, ungefähr so groß wie der Held, der mitten auf dem Feld stand, so sehr in der Mitte, dass er bei Nacht sehr unmöglich zu finden war. Auf dem Stein stand in Russisch, Ukrainisch, Hebräisch, Polnisch, Jiddisch, Englisch und Deutsch:
    DIESES DENKMAL IST ERRICHTET ZUM GEDENKEN AN DIE 1.204 TRACHIMBRODER, DIE AM 18. MÄRZ 1942 VON DER HAND

Weitere Kostenlose Bücher