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Alles ist erleuchtet

Alles ist erleuchtet

Titel: Alles ist erleuchtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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nicht, jedenfalls nicht in dem schlichten und unmöglichen Sinn des Wortes. In Wirklichkeit kannte sie ihn kaum. Und er kannte sie kaum. Jeder von beiden kannte sehr genau das Bild der eigenen Persönlichkeit im anderen, doch niemals den anderen selbst. Hätte Jankel erraten können, wovon Brod träumte? Hätte Brod erraten können, machte sie sich überhaupt die Mühe, darüber zu spekulieren, wohin er des Nachts reiste? Sie waren einander fremd, wie meine Großmutter und ich.
    Aber...
    Aber für jeden von beiden war der andere noch immer das würdigste Objekt der Liebe, das er finden konnte. Also gaben sie einander all ihre Liebe. Er schürfte sich das Knie auf und sagte: Ich bin auch hingefallen. Sie spritzte Wasser auf ihre Hose, damit er sich nicht so allein fühlen musste. Er gab ihr seine Perle. Sie trug sie. Und wenn Jankel sagte, er sei bereit, für Brod zu sterben, dann meinte er es durchaus ernst, doch nicht für Brod war er bereit zu sterben, sondern für seine Liebe zu ihr. Und wenn sie sagte: Vater, ich liebe dich, war sie weder naiv noch unaufrichtig, sondern im Gegenteil klug und ehrlich genug zu lügen. Sie schenkten einander die große, rettende Lüge - dass unsere Liebe zu etwas größer ist als unsere Liebe zu der Liebe zu etwas -, und sie spielten bewusst die jeweiligen Rollen, die sie sich zugedacht hatten. Sie erschufen bewusst die Fiktionen, die das Leben erfordert, und glaubten an sie.
    Sie war zwölf, und er mindestens vierundachtzig. Selbst wenn er neunzig würde, dachte er, wäre sie erst achtzehn. Und er wusste, dass er nicht neunzig werden würde. Insgeheim war er schwach, insgeheim hatte er Schmerzen. Wer würde sich um sie kümmern, wenn er starb? Wer würde ihr etwas vorsingen und ihr auf die besondere Art, die sie so mochte, mit den Fingerspitzen über den Rücken streichen, wenn sie schon längst schlief? Wie würde sie etwas über ihren wirklichen Vater erfahren? Wie konnte er sicher sein, dass sie vor täglicher Gewalt, absichtlicher und unabsichtlicher Gewalt sicher sein würde? Wie konnte er sicher sein, dass sie sich niemals veränderte?
    Er tat alles, was in seiner Macht stand, um seinen raschen Verfall zu bremsen. Er versuchte, gut zu essen, selbst wenn er gar nicht hungrig war, und zwischen den Mahlzeiten ein Glas Wodka zu trinken, selbst wenn er das Gefühl hatte, dass der Schnaps seinen Magen in einen Knoten verwandelte. Er machte jeden Nachmittag einen langen Spaziergang und wusste, dass der Schmerz in den Beinen ein guter Schmerz war, und er hackte jeden Morgen einen Klotz Holz und wusste, dass der Schmerz in den Armen kein kranker, sondern ein gesunder Schmerz war.
    Da er seine häufigen Gedächtnislücken fürchtete, begann er, mit einem von Brods Lippenstiften, den er in einen Strumpf gewickelt in der Schublade ihres Schreibtischs gefunden hatte, Teile seiner Lebensgeschichte an die Decke seines Schlafzimmers zu schreiben. Dadurch war sein Leben morgens, beim Erwachen, das Erste und abends, vor dem Einschlafen, das Letzte, was er sah. Du warst verheiratet, aber sie hat dich verlassen stand über dem Schreibtisch. Du hasst grünes Gemüse am anderen Ende der Decke. Du bist ein Wankler über der Tür. Du glaubst nicht an ein Leben nach dem Tod in eine Kreis um die Deckenlampe. Brod sollte nicht erfahren, wie sehr sein Geist einer Glasscheibe glich, die vor Verwirrung beschlug und an der Gedanken abglitten, dass er vieles von dem, was Brod ihm erzählte, nicht verstand, dass er oft seinen Namen vergaß und sogar - als läge ein kleiner Teil von ih bereits im Sterben - auch den ihren.
    4:812 - Der Traum, für immer mit Brod zu leben: Ich habe diesen Traum jede Nacht. Selbst wenn ich mich am nächsten Morgen nicht daran erinnern kann, weiß ich, dass er da war, so wie die Vertiefung auf dem Kopfkissen neben dir verrät, dass deine Geliebte da war und wieder gegangen ist. Ich träume nicht davon, mit ihr alt zu werden, sondern davon, dass keiner von uns je alt wird. Sie verlässt mich nie, und ich verlasse sie nie. Es stimmt, ich habe Angst vor dem Sterben. Ich habe Angst, dass die Welt sich ohne mich weiter bewegt, mein Fehlen nicht bemerkt wird oder, schlimmer noch, irgendeine Naturgewalt ist, die das Leben vorantreibt. Ist das selbstsüchtig? Bin ich ein schlechter Mensch, wenn ich von einer Welt träume, die mit mir endet? Ich meine nicht, dass die Welt in Hinblick auf mich endet, sondern dass sich alle Augen schließen, wenn meine Augen sich schließen. Manchmal ist

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