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Alles ist erleuchtet

Alles ist erleuchtet

Titel: Alles ist erleuchtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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Unschickliches abgespielt, und in der Eile, Beweise zu beseitigen, hat man neue Beweisstücke geschaffen. Selbst wenn Lady Macbeth den verdammten Fleck hätte entfernen können - wären ihre Hände dann nicht von all dem Geschrubbe rot gewesen? Auf dem Nachttisch steht eine Schale Wasser, und Brod glaubt zu sehen, dass die Oberfläche gekräuselt ist.
    Links... links...
    Sie sieht in einen anderen Raum. Ein Arbeitszimmer? Ein Kinderzimmer? Nicht möglich zu sagen. Sie sieht weg und wieder hin, als hätte sie in diesem Augenblick vielleicht eine neue Perspektive gewonnen, doch der Raum bleibt ihr ein Rätsel. Sie versucht, das Puzzle zusammenzusetzen: Auf der Ablage eines Aschenbechers liegt eine halb gerauchte Zigarette. Auf dem Fensterbrett ein feuchter Waschlappen. Auf dem Tisch ein Stück Papier, und die Handschrift darauf gleicht der ihren: Das bin ich mit Augustine, 21. Februar 1943.
    Weiter hinauf...
    Doch der Dachboden hat kein Fenster. Also sieht sie durch die Mauer, und das ist nicht so furchtbar schwer, denn die Mauern sind dünn, und ihr Fernrohr ist stark. Ein Junge und ein Mädchen liegen auf dem Boden, vor sich die Dachschräge. Sie konzentriert sich auf den Jungen, der aus dieser Entfernung so aussieht, als wäre er in ihrem Alter. Und selbst aus dieser Entfernung kann sie erkennen, dass das Buch, aus dem er ihr vorliest, »Das Buch der Begebenheiten« ist.
    Oh, denkt sie. Dann sehe ich also Trachimbrod.
    Sein Mund, ihre Ohren. Seine Augen, sein Mund, ihre Ohren. Die Hand des Schreibers, die Augen des Jungen, sein Mund, die Ohren des Mädchens. Sie verfolgt die Kausalkette zurück zu dem Gesicht des Menschen, der den Schreiber inspiriert hat, zu den Lippen der Geliebten und den Händen der Eltern des Menschen, der den Schreiber inspiriert hat, zu den Lippen ihrer Geliebten und den Händen ihrer Eltern und den Knien ihrer Nachbarn und ihren Feinden, zu den Geliebten ihrer Geliebten und den Eltern ihrer Eltern und den Nachbarn ihrer Nachbarn und den Feinden ihrer Feinde, bis sie schließlich zu der Überzeugung gelangt, dass nicht nur der Junge dem Mädchen etwas vorliest, sondern dass vielmehr alle - alle, die je gelebt haben - ihr etwas vorlesen. Und während sie ihr vorlesen, liest sie mit:
    DIE ERSTE VERGEWALTIGUNG VON BROD D.
    Die erste Vergewaltigung von Brod D. fand während der Feiern nach dem dreizehnten Trachimtag-Fest statt, am 18. März 1804. Brod war auf dem Heimweg von dem mit blauen Blumen geschmückten Festwagen - auf dem sie in ihrer herben Schönheit so viele Stunden lang gestanden, ihren Meerjungfrauenschwanz nur in geeigneten Augenblicken geschwenkt und die schweren Säcke erst auf das erforderliche Nicken des Rabbis hin in den Fluss geworfen hatte, dessen Namen sie trug - , als sich ihr der verrückte Grundbesitzer Sofiowka näherte, dessen Namen unser Schtetl jetzt auf Landkarten und in mormonischen Der Junge schläft ein, und das Mädchen legt den Kopf auf seine Brust. Brod will mehr hören - sie will schreien: LIES MIR WEITER VOR! ICH MUSS ES WISSEN! -, aber sie können sie von dort, wo sie ist, nicht hören, und von dort, wo sie ist, kann sie die Seite nicht umblättern. Die Seite - Brods papierdünne Zukunft - ist, von dort, wo Brod ist, unendlich schwer.

    Bis zu ihrem zwölften Geburtstag hatte meine Ur-ur-ur-ur-ur-Großmutter von jedem Einwohner Trachimbrods mindestens einen Heiratsantrag bekommen: von Männern, die bereits verheiratet waren, von gebrochenen alten Männern, die auf Schwellen hockten und sich über Dinge stritten, die vor Jahrzehnten passiert oder auch nicht passiert waren, von Jungen ohne Haare in den Achselhöhlen, von Frauen mit Haaren in den Achselhöhlen und von dem verstorbenen Philosophen Pinchas T., der in seiner einzigen bedeutenden Abhandlung »An den Staub: Vom Menschen bist du, und zum Menschen sollst du werden« argumentierte, es sei theoretisch möglich, das Leben und die Kunst gegeneinander auszutauschen. Sie zwang sich zu erröten, klimperte mit den langen Wimpern und sagte zu jedem: Vielleicht lieber nicht. Jankel sagt, ich bin noch zu jung. Aber es ist ein sehr verlockendes Angebot.
    Die sind so albern, sagte sie zu Jankel.
    Warte, bis ich tot bin. Er klappte sein Buch zu. Dann kannst du dir einen aussuchen. Aber nicht, solange ich lebe.
    Ich will aber keinen von ihnen. Sie küsste ihn auf die Stirn. Sie sind nichts für mich. Außerdem - sie lachte - habe ich ja schon den bestaussehenden Mann von ganz Trachimbrod.
    Wer ist es? Er zog sie auf

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