Alles ist erleuchtet
der Kopernikus-Biographie ausgelesen haben, weil wir das Buch dem Mann, von dem Jankel es gekauft hat, zurückgeben müssen. Dann muss ich mich mit den griechischen und römischen Helden beschäftigen, anschließend versuchen, den Sinn biblischer Geschichten zu enträtseln, und schließlich - als hätte der Tag beliebig viele Stunden - gibt es noch die Mathematik. Aber ich will es ja nicht anders...
20.Juni 1803
... »Im Grunde sind die Jungen einsamer als die Alten.« Diesen Satz habe ich in irgendeinem Buch gelesen, und nun geht er mir nicht mehr aus dem Kopf. Vielleicht stimmt es ja. Vielleicht stimmt es auch nicht. Wahrscheinlicher ist, dass die Jungen und die Alten auf unterschiedliche Weise einsam sind, jeder auf seine Weise...
23. September 1803
... Heute Nachmittag kam mir der Gedanke, dass ich nichts auf der Welt so sehr mag, wie in mein Tagebuch zu schreiben. Es versteht mich nie falsch, und ich verstehe es nie falsch. Wir sind wie perfekte Liebende, wie eine einzige Person. Manchmal nehme ich es mit ins Bett und halte es beim Einschlafen im Arm. Manchmal küsse ich eine Seite nach der anderen. Im Augenblick muss ich mich jedenfalls damit begnügen...
Was natürlich ebenfalls ein Geheimnis ist, denn Brod hält ihr eigenes Leben vor sich geheim. Wie Jankel wiederholt sie Dinge, bis diese wahr sind oder bis sie nicht mehr weiß, ob sie wahr sind oder nicht. Sie ist Expertin geworden im Verwechseln von Was ist mit Was war und Was sein sollte und Was sein könnte. Sie vermeidet Spiegel und greift zu einem starken Fernrohr, um sich selbst zu finden. Sie richtet es auf den Himmel und kann - das glaubt sie jedenfalls - über die Bläue, über die Schwärze, ja sogar über die Sterne hinaus und in eine andere Schwärze und Bläue sehen: Es ist ein Bogen, der an ihrem Auge beginnt und an einem schmalen Haus endet. Sie mustert die Fassade, bemerkt, wo das Holz des Türrahmens sich verzogen hat und ausgebleicht ist, wo das Wasser aus der undichten Regenrinne weiße Spuren hinterlassen hat, und sieht dann durch ein Fenster nach dem anderen. Durch das Fenster links unten erblickt sie eine Frau, die einen Lappen in der Hand hält und einen Teller abwäscht. Die Frau, so scheint es, singt vor sich hin, und Brod stellt sich vor, dass es das Lied ist, mit dem ihre Mutter sie in Schlaf gesungen hätte, wenn sie nicht, wie Jankel ihr versichert hat, bei Brods Geburt schmerzlos gestorben wäre. Die Frau betrachtet ihr Spiegelbild im Teller und stellt ihn dann auf den Stapel der anderen, bereits abgewaschenen Teller. Sie streicht sich die Haare aus dem Gesicht, damit Brod es besser sehen kann - jedenfalls denkt Brod das. Der Frau sitzt die Haut zu lose auf den Knochen, und sie hat für ihr Alter zu viele Falten; es ist, als wäre ihr Gesicht ein Tier, das täglich ein winziges Stück weiter an ihrem Kopf herunterkriecht, bis es eines Tages an ihrem Kinn hängen und schließlich herunterfallen und in ihren Händen landen wird, damit sie es ansehen und sagen kann: Das ist das Gesicht, das ich mein Leben lang getragen habe. Durch das Fenster rechts unten ist nichts zu sehen außer einem großen Schreibtisch, der übersät ist mit Büchern, Papieren und Fotos - Fotos von einem Mann und einer Frau, von Kindern und den Kindern der Kinder. Was für wundervolle Porträts, denkt Brod. So klein, so gestochen scharf! Sie betrachtet ein bestimmtes Foto genau: ein Mädchen an der Hand seiner Mutter. Die beiden stehen an einem Strand, oder jedenfalls sieht es aus dieser großen Entfernung so aus. Das Mädchen, das perfekte kleine Mädchen sieht in eine andere Richtung, als wäre da jemand, der Gesichter schneidet, um es zum Lächeln zu bringen, während die Mutter - vorausgesetzt, es ist die Mutter - das Mädchen ansieht. Brod betrachtet das Foto noch genauer, diesmal richtet sie den Blick auf die Augen der Mutter. Sie sind grün - das nimmt sie jedenfalls an - und tief, wie der Fluss, dessen Namen Brod trägt. Weint sie?, denkt Brod und legt das Kinn auf das Fenstersims. Oder wollte der Künstler sie nur noch schöner aussehen lassen? Denn für Brod war sie schön. Sie sah genauso aus, wie Brod sich ihre eigene Mutter vorstellte.
Hinauf... hinauf...
Durch das Fenster eines Schlafzimmers im ersten Stock sieht sie ein leeres Bett. Das Kissen ist ein perfektes Rechteck. Die Decke ist so glatt wie eine Wasseroberfläche. Es kann sein, dass in diesem Bett niemals jemand geschlafen hat, denkt Brod. Oder vielleicht hat sich dort etwas
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