Alles ist erleuchtet
verbannte ihre Tränen an einen Ort, der irgendwo tief in ihr lag und sicherer war.
Sie nahm das Stück Papier aus Jankels Hand. Es war feucht vom Regen, von Todesangst und Tod. In Kinderschrift war daraufgekritzelt: Alles für Brod.
Das Blinzeln eines Blitzes beleuchtete den Kolker am Fenster. Er war stark, und dichte Augenbrauen beschatteten seine Augen, die so dunkel waren wie Ahornrinde. Brod hatte ihn gesehen, als er mit dem Sack aufgetaucht war, als er die Münzen wie goldenes Erbrochenes aus dem Sack auf den Boden geschüttet hatte, doch sie hatte ihn nicht weiter beachtet.
Geh weg!, schrie sie, bedeckte ihren nackten Busen mit den Armen, drehte sich wieder zu Jankel um und schützte seinen und ihren Körper vor den Blicken des Kolkers. Doch er ging nicht weg.
Geh weg!
Ich gehe nicht ohne dich, rief er ihr durch das geschlossene Fenster zu.
Geh weg! Geh weg!
Der Regen tropfte von seiner Oberlippe. Nicht ohne dich.
Ich bringe mich um!, rief sie.
Dann nehme ich deine Leiche mit, sagte er, die Hände an das Glas gepresst.
Geh weg!
Ich gehe nicht!
Jankel zuckte noch einmal und stieß die Öllampe um, die dabei erlosch, sodass der Raum vollkommen dunkel war. Seine Wangen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln, das den gebannten Schatten Zufriedenheit offenbarte. Brod ließ die Arme über Brust und Bauch an die Seite herabsinken und drehte sich zu meinem Ur-ur-ur-ur-ur-Großvater um.
Dann musst du etwas für mich tun, sagte sie.
Ihr Bauch leuchtete wie der Leib eines Glühwürmchens -heller als hunderttausend Jungfrauen, die zum ersten Mal mit einem Mann schliefen.
Kimm!, ruft meine Großmutter meiner Mutter zu. Kimm aher! Meine Mutter ist einundzwanzig, so alt wie ich, während ich dies schreibe. Sie lebt bei ihrer Mutter, geht zur Abendschule, hat drei Jobs, will meinen Vater finden und heiraten, will mich erschaffen und lieben und mir vorsingen und täglich viele Male für mich sterben. Geh a kik, sagt meine Großmutter und zeigt auf den flimmernden Fernsehschirm. Sie legt die Hand in die meiner Mutter und fühlt ihr eigenes Blut durch diese Adern fließen und das Blut meines Großvaters (der nur fünf Wochen nach seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten gestorben ist, knapp ein halbes Jahr nach der Geburt meiner Mutter) und das Blut meiner Mutter und mein Blut und das Blut meiner Kinder und Enkelkinder. Ein Rauschen. That's one small Stepp for man... Sie starren auf ein bläuliches Stück Marmor, das im Weltall schwebt - Heimkehr aus so großer Ferne. Meine Großmutter versucht, ihre Stimme zu beherrschen. Dus wollt gewejn a fargnigen far dejn tatn! Der bläuliche Marmor verschwindet, und an seiner Stelle erscheint ein Nachrichtensprecher, der die Brille abgesetzt hat und sich die Augen reibt. Meine Damen und Herren, Amerika hat einen Menschen auf den Mond geschickt. Meine Großmutter kommt mühsam auf die Beine - sie ist alt, selbst damals schon - und sagt mit vielen verschiedenen Tränen in den Augen: Nischt zu gleuben! Sie küsst meine Mutter, verbirgt die Hände im Haar ihrer Tochter und wiederholt: Nischt zu gleuben! Auch meine Mutter weint, und jede ihrer Tränen ist einzigartig. Sie weinen gemeinsam, Wange an Wange. Und keine von beiden hört das Flüstern des Astronauten: ich sehe da etwas, während er über den Mondhorizont hinweg auf das winzige Dorf Trachimbrod blickt. Ganz eindeutig - da unten ist irgendwas.
28. Oktober 1997 Lieber Jonathan, ich habe den Empfang deines Briefes genossen. Du bist immer so schnell im Schreiben. Das wird sich lohnen, wenn du ein richtiger Schriftsteller bist und kein Lehrling mehr. Massel tow!
Großvater hat mir befohlen, dir für das Duplikat des Fotos zu danken. Es war sehr gütig von dir, es zu schicken und kein Geld von ihm zu fordern. In Wahrheit besitzt er ja auch nicht sehr viel. Ich war sicher, dass Vater ihm keins für die Reise gegeben hat, denn Großvater erwähnt oft, dass er kein Geld hat, und ich weiß gut, wie Vater bei diesen Dingen verhält. Das machte mich sehr zornig (nicht genervt, denn du hast mich informiert, dass das nicht das anständige Wort ist, auch wenn ich es oft benutze), und ich ging zu Vater. Er schrie mich an: »ICH HABE VERSUCHT, GROSSVATER GELD ZU GEBEN, ABER ER WOLLTE ES NICHT NEHMEN!« Ich sagte ihm, dass ich ihm nicht glaube, und er stieß mich und befahl mir, dass ich Großvater in dieser Sache fragen soll, aber das kann ich natürlich nicht. Als ich auf dem Boden lag, sagte Vater mir, dass ich nicht alles
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