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Alles ist grün

Alles ist grün

Titel: Alles ist grün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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der Küche meiner Wohnung nicht mehr so gewaltig dampft.
    »Und warum verursachen Briefe, Telefonate und Ihre Kinder, die ich wie meine eigenen liebe, Ihnen solche Magenschmerzen?«, frage ich. Ich staple vier Cracker neben Mrs. Tagus’ Untertasse.
    »Wenn Sie den Anruf bekommen hätten, den ich von Bonnie bekommen habe«, sagt Mrs. Tagus. »Von diesem Mädchen, dem wer bloß, wer ein Härchen krümmen wollen könnte? Wer, wer könnte ihren Gefühlen auf der Waage kein Gewicht beimessen wollen?«
    Ich sehe ein bisschen das Weiße meines Atems in der Küchenluft. Es liegt eine gewisse Beruhigung darin, dass ich es sehen kann. Ich lege meine Hand auf Mrs. Tagus’ Faust von einer Hand auf meinem kalten Küchentisch. Die Haut über den Knöcheln von Mrs. Tagus ist trocken und spannt, und als sie die Faust entfaustet, damit ich die Hand trösten kann, spüre ich die Haut knittern wie Papier. Was mich angeht: leider auch Papierhaut. Ich sehe unsere beiden Hände an. Wenn meine selige Sandra heute Abend hier bei uns wäre, würde ich nur für ihre Ohren bestimmte Bemerkungen über das Alter machen, die Kälte, das mühselige Treppensteigen, papiertrockene, braun gesprenkelte Haut mit gelb gewordenen Fingernägeln, und dass Labov den Eindruck hat, wir altern wie die Tiere. Wir bekommen Krallen, die Form unserer Gesichter wird zur Form unserer Schädel, und unsere Lippen weichen von den großen Zähnen zurück, als wollten wir diese fletschen. Knochig, fletschend, alt: Wen kann es da wundern, dass niemanden meine Schmerzen rühren, bis auf einen anderen Fletscher?
    Sandra Labov: ein Mensch, der stets ein offenes Ohr für Bemerkungen dieser Art hatte. Sie fehlt mir in allem. Der Verlust von Sandra Labov ist es, der die schwarzen Zeiger meiner Küchenuhr nur vorrücken lässt, um mir zu sagen, was ich wann zu tun habe.
    Mrs. Tagus und ich sind uns nähergekommen, wie alte Menschen das, mit Verlaub gesagt, heutzutage in dieser Stadt brauchen. Ihr Mann und ich waren so, wir standen uns so nah. Für Mr. Tagus und die Taguses: geschneiderte Kleider mit Rabatt. Für Mrs. Labov und mich: Versicherungen ohne Provision. Taguses und Labovs stehen sich nahe. So nahe, dass ich unversehens auf die Uhr schaue und Mrs. Tagus zusetze, mir unverblümt den Grund ihrer Magenschmerzen zu nennen.
    »Nehmen Sie kein Blatt vor den Mund, Mrs. Tagus«, sage ich.
    Sie seufzt und schlingt in der Kälte die Arme um den Leib. Ich sehe ihren Atem. Sie beugt sich vor, nimmt kein Blatt vor den Mund und flüstert mir die Worte zu: »Untreue, Mr. Labov.« Durch die dicke Brille sehen ihre milchigen Augen, deren Linsentrübung bereits operiert worden ist, mir in die Augen, und nach einem Räuspern sagt sie: »Und Verrat.«
    Ich warte, bis sich Stille um die Angelegenheit gesammelt hat, die jetzt ans harte Licht gekommen ist, und bitte Mrs. Tagus dann, mich darüber aufzuklären, was es mit diesem Verrat auf sich habe.
    »Es wird Bonnie umbringen, weil sie am Schmerz dieser Schande sterben wird. Oder Mikey könnte zu Recht die Handgegen ihn erheben, seinen eigenen Bruder«, sagt Mrs. Tagus und begründet damit ihre schrecklichen Magenschmerzen des Nachts, mit diesem Dreieckszoff zwischen den drei Kindern, über den ich mich noch nicht ausreichend aufgeklärt fühle.
    Mrs. Tagus kämpft gegen die Tränen. Ihr Tee ist kalt geworden und heller als Tee, und ich stehe auf und gehe zur Teekanne und dem heißen Wasser im Kupferkessel, den meine Frau Sandra und ich zum Hochzeitstag von Arnold und Greta Tagus erhielten, als Roosevelt verschied, er ruhe in Frieden, und Mrs. Tagus räuspert sich wieder und betastet ihren Magen durch den Mantel, den ich mit feinem Darmfaden genäht habe, um die Felle zu verschweißen.
    Sie sagt, der Anruf ihrer Schwiegertochter Bonnie Tagus heute, dem sie diese Verfassung verdanke, habe auch mit einem halben fotokopierten Brief von Lenny, ihrem ganzen Stolz, zu tun gehabt, einem halben Brief, den Mrs. Tagus ebenfalls heute in ihrem Briefkasten gefunden habe, aber noch vor dem Anruf von Bonnie Tagus. Es kommt alles auf einmal. Der halbe Brief von Lenny, sagt sie, war eine Fotokopie (nicht mal persönlich?). Er hatte mehrere Fotokopien des Briefes als Express-Sendung versandt. In großer Hektik. »›Ein Erguss‹, sagt er«, sagt Mrs. Tagus, »›für Freunde und Mischpoche‹.« Der alle Probleme für jedermann erläutert. Sie sieht mich an, der ich vor dem Kessel auf dem Herd stehe, bei dem nur noch ein großer Brenner Gas hat. Habe ich,

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