Alles ist grün
Drahtbündel zu welcher Klemme am Stromverteiler gehört. Ich habe Angst vor der Feuergefahr aufgrund eines unrichtigen Stromflusses im Verteiler, und die Chancen sind (½) 4! , dass jemand die richtigen Klemmen für jeden Kabelstrang erraten könnte. ›Je tenais‹, sagt meine Tante halblaut. ›Tu tenais, il tenait.‹ Sie fragt mich, ob alles klappt. Ich sage, ich hab’s wahrscheinlich gleich. Sie sagt, wenn es was Ernstes ist, wäre es wirklich auch kein Problem, die Rückkehr meines Onkels abzuwarten, der ist ein alter Hase, was das Mistding von Herd angeht, und kann sich das dann anschauen; und wenn weder er noch ich das Ding in Gang kriegen, dann holen wir uns halt irgendwo draußen was zu essen. Ich fühle meinen furchtbaren Haarschnitt und sage ihr, dass ich’s wahrscheinlich gleich habe. Ich beschließe, bei ein paar Kabelsträngen einige Zentimeter der alten rosaroten Plastikummantelung abzuisolieren; vielleicht sind die Drähte selbst ja farbcodiert. Ich löse also die Ummantelung von den ersten beiden Kabelsträngen, aber alle Drähte sind vom selben stumpfen Silberfischgrau und die Leiter so alt und ausgefranst, dass die Drähte aufspleißen und in verschiedene Richtungen abstehen und durcheinanderkommen, und jetzt bekäme ich die nicht mal mehr in den Stromverteiler zurück, wenn ich wüsste, wo sie jeweils hingehören, ganz zu schweigen von der steigenden Feuergefahr bei Kurzschlüssen zwischen den blanken Drähten. Ich komme ins Schwitzen. Ich sehe, dass die Stoffisolierung des Herdzuleitungskabels auch schon so zerschlissen ist, dass zwei Drähtchen der 220-Volt-Kupferlitze hervorstehen. Vielleicht war das Hauptkabel die ganze Zeit das Problem. Mir wird klar, dass ich als Erstes den Backofen hätte einschalten sollen, um zu sehen, ob das Stromproblem nicht vielleicht viel grundlegender war als die Kochplattenkabel oder der Stromverteiler. Meine Tante rutscht auf dem Stuhl hin und her. Ich bekomme Atemnot. Abisolierte, zerfaserte Kochplattendrähte liegen wie graue Haare auf dem Stromverteiler. Die Drähte müssen wieder zu Strängen gebunden werden, damit ich sie wieder einführen und die Kochplatten auch nur potenziell betriebsfähig machen kann, aber mein Onkel hat kein Werkzeug zum Binden. Und ich persönlich habe auch noch nie Kabelstränge gebunden. Die Arbeit, die mich interessiert, wird mit einem Bleistift auf einem Blatt Papier geleistet. Allenfalls noch mit einem Taschenrechner. In innovativer Elektrotechnik lässt sich fast alles Interessante mittels der Bearbeitung von Variablen lösen. Bei einer Klausur war ich noch nie mit meinem Latein am Ende. Noch nie. Und jetzt habe ich anscheinend diesen miesen Scheißherd kaputt gemacht. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich könnte das Backofenkabel mit einer Kochplattenklemme am Stromverteiler verbinden, aber ich habe keinen blassen Schimmer, wie heiß die Kochplatte durch den Überstrom dann werden könnte. Ohne Daten zu den Widerstandsverhältnissen der Metallzusammensetzung der Kochplatten ist da absolut nichts zu machen. Der Strom, mit dem man einen großen Backofen gerade mal erwärmt, könnte eine Kochplatte einfach schmelzen lassen. Das ist nicht ausgeschlossen. Ich muss fast weinen. Meine Tante ist inzwischen bei den ir/iss- Verben angelangt. ›Je partissais, tu partissais, il partissait, elle partissait.‹«
›Du kannst keinen Elektroherd reparieren?‹
»Meine Tante fragt wieder, ob ich sicher bin, dass das kein Problem ist, und ich sage nichts, weil ich Angst habe, dass mich meine Stimme verrät. Ich trenne die anderen Kabelenden sorgfältig von den Heizelementen der Kochplatten, lege die Drähte säuberlich zu Schleifen und reihe sie im Herdanschlussraum auf. Ich räume auf. Plötzlich wünsche ich mich von diesem Herd so weit wie möglich fort. Ich bekommeAngst vor dem Herd. Am Herd vorbei sehe ich die Füße meiner Tante, die jetzt aufsteht. Ich höre, wie die Kühlschranktür aufgeht. Eine Schüssel wird über mir auf die Arbeitsfläche gestellt und etwas Knisterndes entfernt; durch die Gerüche von Herdschmiere und uralten Kabeln steigt mir köstlicher Chiliduft in die Nase. Ich klappere im Herd mit einem Schraubenzieher, damit meine Tante glaubt, ich tue was. Ich bekomme immer mehr Angst.«
»Er hat mir oft gesagt, er liebt mich.«
›Angst wovor?‹
»Ich habe ihren Herd kaputt gemacht. Ich brauche ein Werkzeug zum Binden. Aber ich habe noch nie Kabelstränge gebunden.«
»Und als er das gesagt hat, meinte er
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