Alles ist mir nicht genug
aufzulockern. Sie hatte gehofft, mit ihm
gemeinsam darüber lachen zu können. Sie hätte ihm gern gesagt, dass sie zu gute
Freunde waren, um wegen so etwas lange sauer aufeinander zu sein. Sie wollte
sich auf Millionen verschiedene Arten bei ihm entschuldigen, aber tief im
Inneren hoffte sie auch, Dan würde sie gut genug kennen und wissen, dass sie
seine Schwester niemals öffentlich demütigen würde. Vielleicht begriff er, wie
sehr er sie gedemütigt hatte, indem er sie
halb nackt in seinem Zimmer hatte stehen lassen, und vielleicht würde er sogar
den ersten Schritt tun und sich bei ihr entschuldigen.
»Alles klar.
Dann sehen wir uns nachher. Ich bring uns was zum Abendessen mit.« Ruby drehte
sich um und ging.
Vanessa setzte
sich an ihren PC, um zum hundertsten Mal nachzugucken, ob Dan ihr gemailt
hatte.
Er hatte -
hurra! Sie zog schnell ihren Schreibtischstuhl heran und öffnete die Mail mit
zwei Mausklicks. Es war ein Gedicht.
Sie las es
dreimal am Bildschirm, bevor sie es ausdruckte und noch einmal las. Die
hässlichen, wütenden Worte brachen ihr das Herz. Dan hatte ihr nicht
verziehen, so viel war klar.
Aber Vanessa
war schon immer eine Expertin gewesen, wenn es darum ging, im Hässlichen das
Schöne zu sehen, und sie hatte genügend Beiträge für den Rancor gelesen, um beurteilen zu können, dass dieses Gedicht etwas Besonderes war. Es
steckte voller starker Bilder und aus jedem Wort sprach Leidenschaft. Und
obwohl Vanessa am liebsten den Kopf in ihrem Kopfkissen vergraben hätte, um zu
heulen, bewunderte sie die geschickte Wortwahl. Das Gedicht war brillant.
Sie presste
entschlossen die Lippen aufeinander. Okay, das Gedicht handelte von ihr und
davon, was für ein furchtbarer Mensch sie in Dans Augen war, und vielleicht
sprach er nie wieder ein Wort mit ihr. Trotzdem würde sie dafür sorgen, dass es
veröffentlicht wurde.
Dan hatte zwar
nie versucht, eine seiner Arbeiten einer Literaturzeitschrift anzubieten, aber
das hieß nicht, dass er nicht vor Begeisterung ausflippen würde, wenn er im
nächsten New Yorker sein eigenes
Gedicht fände. Und seiner Unibewerbung würde das natürlich auch nichts
schaden. Sie musste es einfach tun. Das war sie ihm schuldig.
Vanessa sprang
auf, lief ins andere Zimmer und wühlte so lange in Rubys Sachen herum, bis sie
endlich unter der Klotür eingeklemmt einen alten New Yorker fand. Sie suchte den Namen der zuständigen Redakteurin heraus, setzte sich wieder
an den Computer, schrieb ihr einen Brief und legte einen an Dan adressierten
frankierten Rückumschlag bei.
audrey geht zur uni
AUSSEN/TAG:
LITERATURWISS. PAK. AUF DEM CAMPUS EINER EHRWÜRDIGEN UNIVERSITÄT IN NEW ENGLAND
Ein
dreistöckiges, efeubewachsenes Backsteingebäude mit weißem Säulenvorbau.
Rasenfläche. Marmortreppe.
Die
achtzehnjährige AUDREY, eine attraktive, dunkelhaarige junge Frau in modischem
Rock und Bluse mit flachen Schuhen fährt auf ihrem klassischen Schwinn-Fahrrad
über den Rasen und schiebt es neben der Marmortreppe in den Fahrradständer.
Sie eilt die Stufen hinauf und betritt das Gebäude.
INNEN:
LITERATURWISS. FAKULTÄT
Ein langer
Korridor, von dem aus Türen in die kleinen Büros der Professoren führen. Alle
Türen stehen offen und in jedem Büro sitzt ein Dozent mit einer Studentin oder
einem Studenten und diskutiert über die Feinheiten verschiedener Werke der
Weltliteratur.
STUDENT A:
Ich hätte es ja irgendwie besser gefunden, wenn der Wal gesprochen hätte.
PROFESSOR A:
Aber es geht nicht um einen sprechenden Wal, sondern um Sinnsuche.
STUDENT B:
Aber ich habe total auf die Zeichensetzung verzichtet. Da, sehen Sie mal. Kein
einziger Punkt und auch nirgends ein Komma.
PROFESSOR B:
Das macht es aber noch lange nicht zu Lyrik. Lyrik hat... nun ja, Lyrik ist lijrisch.
PROFESSOR C:
Haben Sie das Buch gelesen, das ich Ihnen empfohlen habe?
STUDENT
C:
Das mit dem Wal?
PROFESSOR C:
Ja, genau. Was
halten Sie davon?
STUDENT C:
Tja, also ich hätte es ja irgendwie besser gefunden, wenn der Wal gesprochen
hätte.
Ein
vierter Professor tritt zur Tür seines Büros hinaus, sieht nach rechts und
links den Korridor hinunter, geht wieder in sein Büro und knallt die Tür zu.
AUDREY (abgehetzt aussehend) hastet den Flur entlang. Sie klopft an der Tür
des Professors, der diese gerade zugeschlagen hat.
AUDREY:
Professor Weeks! Oh, Professor Weeks!
Prof.
Weeks öffnet die Tür.
PROF.
WEEKS: Sie sind spät dran.
AUDREY:
Ja,
aber
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