Alles kam ganz anders
Stolz darüber, daß ein so charmanter junger Mann wie Jean-Louis sich für meine kleine unerfahrene Wenigkeit interessierte. Ich erzählte über mich, er auch ein klein wenig über sich. Ich sagte ihm, daß ich vorhatte, mich als Simultandolmetscherin ausbilden zu lassen, und das fand er großartig. Er hatte sein Abitur gemacht und vertrödelte jetzt ein Jahr; er fuhr kreuz und quer durch Frankreich, wollte endlich sein Land richtig kennenlernen, wie er sagte. Wir machten Vormittagsausflüge und Abendspaziergänge, er küßte mich unter einem blühenden Kastanienbaum, und dann – nun ja. es gibt eben Dinge, über die ich nicht sprechen kann. Ich erlebte drei Tage, an denen ich auf rosa Glückswolken schwebte. Und ich gebe zu. daß ein ganz böser kleiner Gedanke mich öfter erfüllte: Ich habe auch einen Freund, und was für einen! Ich bin nicht mehr die kleine dumme, unerfahrene Simone. Ach, Elaine, ich hatte so schwierige Jahre hinter mir, ich war so einsam gewesen – das ist wohl meine einzige Entschuldigung!“
„Du brauchst keine Entschuldigung, Simone“, sagte ich. „Aber sag mir bloß, was sagte dein Vater dazu, daß du so oft fort warst, wo du ihn doch besuchtest?“
„Oh. ich sagte, daß ich mit meinen alten Schulfreunden zusammen war. und das fand er verständlich und erfreulich. Außerdem hatte ich das Gefühl, daß mit meinem Vater etwas nicht ganz stimmte. Er sah oft so aus. als hätte er irgendwelche Probleme, und seiner Frau ging es ebenso. Ich glaube, sie waren froh, daß ich ihnen nicht andauernd auf der Pelle saß. – Welche Sorgen sie hatten, erfuhr ich erst später. Dann, eines Morgens, kam ein Briefchen für mich. Oder vielmehr ein paar Zeilen, schnell hingekritzelt:
Liebe kleine Simone,
ich habe ein Telegramm gekriegt und muß sofort nach Hause. Es war nett, dich kennenzulernen, und diese Tage werden mir immer als etwas sehr Schönes in der Erinnerung bleiben. Ich wünsche Dir alles Gute und danke Dir für alles.
Tausend Küsse, Jean-Louis.
Ja. da saß ich nun. Einsamer als je zuvor. Denn es gab keinen Menschen, dem ich meine Sorgen und meine bittere Enttäuschung anvertrauen konnte. Ich mußte allein mit allem fertig werden, ich kleine, unbeschreiblich Dumme.
Was für mich das größte Erlebnis gewesen war – ja. das war für Jean-Louis eben ein kleines Abenteuer unterwegs, ein Abenteuer, so wie er es bestimmt sehr oft auf seiner Reise ‚kreuz und quer durch Frankreich’ erlebte.
Ich kannte seinen Namen, wußte aber seine Anschrift nicht. Außerdem wollte ich keinen Finger krumm machen, um ihn ausfindig zu machen. So viel Stolz hatte ich doch, mitten in meiner bodenlosen Enttäuschung. Die Ferien gingen zu Ende, ich fuhr wieder nach Hause zu Mutti, und war nach wie vor einsam. Furchtbar einsam. Was mich aber tröstete, waren meine Zukunftspläne. Ich war froh, daß ich mir ein Ziel gesetzt hatte, und ich wußte, daß mein Vater mich finanziell unterstützen würde, so daß ich die teure Ausbildung kriegen konnte. Ich trainierte heimlich, indem ich deutsche Rundfunksendungen ins Französische übersetzte. Satz für Satz, – während ich einen Satz übersetzte, mußte ich mir den nächsten anhören – du, das ist anstrengend. Aber es machte sehr viel Spaß. Mutti war auch sehr interessiert daran und meinte, daß diese Arbeit mir liegen würde.
Und ich versuchte, Jean-Louis aus meinem Gedächtnis zu streichen und nur an die Zukunft zu denken.
Drei Wochen, nachdem ich zurückgekommen war, erlebten Mutti und ich den großen Schock. Es war ein Brief von Vati; die alte Firma, in der er Abteilungsleiter war, hatte Pleite gemacht, er stand da ohne Stellung, und zu allem anderen kam, daß seine Frau ihr drittes Kind erwartete. Wahrscheinlich würde er sein Haus verkaufen müssen, und so sah er keinen Ausweg, den Unterhalt für mich weiter zu zahlen. Wo nichts ist, hat auch der Kaiser sein Recht verloren – heißt es nicht so?
Mutti war sehr tapfer. Sie wollte alles Menschenmögliche tun, damit ich jedenfalls mein Abitur machen konnte. Sie hatte Glück. Eine große Firma suchte eine Auslandskorrespondentin, ‚perfekt im Französischen und mit guten Englischkenntnissen’. Mutti erfüllte die Bedingungen und bekam die Anstellung. Aber das bedeutete für mich noch mehr Einsamkeit, denn jetzt war Mutti den ganzen Tag fort, ja, sie mußte oft Überstunden machen, allerdings gut bezahlte Überstunden, aber ich war allein, so schrecklich allein.
Eines Morgens ging es mir
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