Alles Land - Roman
Deck. Bei aller Erschöpfung hatte er sich niemals so entschlossen gefühlt.
Als einmal der Schneefall für Momente aussetzte, sah er hinauf in die graue Wolkenfläche, die nichts von sich preisgab. Noch immer hingen einige Flocken dort oben und wollten einfach nicht zu ihnen herunterfallen. Klein und weiß kreisten sie in schwindelerregender Höhe und scherten sich einen Dreck um Schwerkraft und irdische Gesetze. Vielleicht war das der richtige Weg.
Gerade als Wegener vom Glauben an die Gravitation abfallen wollte, taten die Flocken einen Schlag mit den Flügeln und erwiesen sich als Sturmvögel. Ein ganzer Schwarm war es, der nun weiterzog, einem anderen, wirtlicheren Ende der Welt entgegen.
Nach dem Morgenessen an Bord stand Wegener auf und bat die Mannschaft, noch ein wenig sitzen zu bleiben, er habe etwas zu sagen. »Es ist für alle ermüdend, was wir hier tun, und in den kommenden Wochen wird die Arbeit nicht weniger. Expeditionen im Polargebiet stellen nun einmal in erster Linie ein Transportproblem dar. Im Studium haben manche von uns sicherlich von einem Leben in der Forschung geträumt. Und wohin hat es uns nun
verschlagen? Was wir hier tun, ist dem Bau der Pyramiden näher als der Pyramidenberechnung. Und das alles für ein paar Zahlen und Reihen, mit denen wir, wenn es Gott gefällt, im kommenden Jahr zurückkehren?«
Wegener sah sich um. Wie alt die Gesichter geworden waren, seit er sie an Bord genommen hatte. Vielleicht lag es daran, dass keiner hier zum Rasieren kam, sie trugen alle, einer wie der andere, einen Bart.
»Ich will eine Methode verraten, die mir selbst schon oft geholfen hat. Sie ist universell gültig und außerordentlich hilfreich. Um in einer Notlage zu bestehen, müssen wir uns die Vorstellung erarbeiten, unser Tun sei unentbehrlich, unsere wissenschaftlichen Fragen seien die interessantesten der Welt. Nur eine solche, mit kaltem Verstand betrachtete übertriebene Bewertung der eigenen Arbeit befähigt zu der Leistung, die uns hier abverlangt wird. Wer die Geschichte der polaren Unglücksfälle betrachtet, stößt auf eine rätselhafte Regel: Genau genommen fehlt zu jeder Katastrophe der zwingende Grund. Ohne ersichtlichen Anlass bleibt die Expedition liegen und büßt auf einmal die Fähigkeit zur Weiterreise ein. Der Grund dafür ist immer das Schwinden dieser Illusion. Wie ein arktischer Fallwind senkt sich Zweifel ins Gemüt, kalt wie Scotts Enttäuschung. Die Kraft schwindet gerade dann, wenn die Einsicht obsiegt, dass man am Ende nichts ist als ein jämmerlicher Stümper.«
Schweigend deckten die Männer ihr Frühstück ab. Von der Küste herüber drang unaufhörlich das Heulen der Hunde.
Wegener strich die freien Sonntagnachmittage, obwohl er ja wusste, dass verlorene Zeit nicht aufzuholen war. Er reiste die ganze Küste entlang, um weitere Hunde zu finden und jeden Ortsvorsteher zu bewegen, noch die kleinsten Flecken des spärlichen Grases rupfen zu lassen. Allein waren es winzige Mengen, aber bald hatten sie sechshundert Kilogramm zusammen, was zweihundert Kilogramm Heu ergeben sollte. Dazu kamen zweihundertvierzig Kilogramm Halbgetrocknetes, das bereits an den Fuß des Moränenweges geliefert wurde.
Dort trat man nun überall auf Heusäcke und Hunde. Es war schleierhaft, wie jedes Tier nach überstandenem Einsatz zurück zu seinem Besitzer finden sollte. Aber das sollte vorerst nicht seine Sorge sein. Erst einmal war Wegener dankbar, dass die Hunde dort lagen, ein großer, atmender Teppich im Schnee.
So könnte es gehen. Wenn sie nur alle ihre Zähigkeit nicht verloren. Ihre Ausdauer. Den Mut.
Den Depots gaben sie die Namen ihrer Frauen. Es spornte sie zusätzlich an.
Anfang August entdeckte Wegener die erste Laus in seinem Hemd. Unangenehm, aber nicht überraschend. Sie lebten mit den Grönländern so eng zusammen, dass sich eine Ansteckung kaum vermeiden ließ. Er legte sich das Tier auf die Hand und betrachtete es. Die wütenden Hörnchen machten ihm keine Angst. Sechs Beinchen krabbelten ins Leere, darunter beulte sich der Leib wie das Hochzeitskleid
einer hochschwangeren Braut. Nicht zu erkennen, ob sie sein Blut bereits getrunken hatte.
Es war nicht die Laus, über die er erschrak, sondern die Handfläche, auf der sie lag. Tief zerfurcht, gelblich, rau – welches Leben hatte seine Haut so zugerichtet? Er folgte den Linien mit dem Blick. Hatte nicht, vor vielen Jahren, Eichhörnchen einmal versucht, die Zukunft herauszulesen ? Wie lang seine
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