Alles Land - Roman
Nägel geworden waren, man kam hier einfach nicht zur Maniküre. Wegener nahm die Laus zwischen Daumen und Zeigefinger und knackte sie mit der Kante eines Fingernagels.
Morgens nach getaner Arbeit verfasste er Briefe an Else. Man höre, schrieb er einmal, die Eskimos hätten so unendlich viele Wörter für Schnee. Darauf solle sie bitte nichts geben, er habe es untersucht. Tatsächlich hätten sie nur zwei. Eines für fallenden, eines für liegenden Schnee, was ihm klug erscheine. Und schön überdies. Dazu kämen natürlich Zusammensetzungen, nicht anders als daheim, also Neuschnee, Pulverschnee, Schneesturm und so fort. In einzelnen Dialekten gebe es wohl noch einen Begriff für den Schnee, der dicht über dem Boden weht. Das sei den Gegebenheiten vor Ort geschuldet. Und schließlich könne man mit viel gutem Willen noch den Ausdruck muruaneq hinzuzählen, der alles bezeichne, worin man versinkt. In der Regel sei damit eben Schnee gemeint. Das sei es dann aber auch schon. Zusammen vier Wörter, nicht mehr und nicht weniger als in ihrer eigenen Muttersprache: Schnee, Firn, Graupel, Harsch. Dafür jedenfalls müsse man sich nicht an dieses Ende der Welt aufmachen.
Bevor er sich schlafen legte, setzte er noch ein Postskriptum unter den Brief: Für heute bist Du mein muruaneq.
Was war es für eine Schinderei, die sie sich antaten. Zwei Fünftel der Ladung waren nun oben auf dem Eis. Wegeners Befürchtungen aber hielten an. Immer offensichtlicher trieben sie in eine leidige Zwangslage hinein. Bald würde der kurze Sommer enden, der Weg bis zu der Stelle, wo das Winterhaus der Weststation errichtet werden sollte, war noch weit.
Dort würden sie, wenn alle Teile endlich hinaufbefördert waren, die Motorschlitten zusammenbauen und auf dem flachen Inlandeis mit den Transporten nach Eismitte beginnen. Aber die Mengen an Lebensmitteln, Brennstoff, Instrumenten und Material, die dort nötig waren, bevor der Winter kam. Es war nicht auszudenken, wie all das je gelingen sollte.
Oder war nur die Laus schuld an seinen düsteren Gedanken ? Ganze Stunden brachte Wegener mit Waschungen zu, er baute die Flitspritze zusammen und nebelte sich mehrmals von Kopf bis Fuß mit dem Zerstäuber ein. Zwei Tage lang kochte er all seine Sachen und wusch sie in Benzin. Um Mitternacht sank die Sonne inzwischen wieder so tief unter den Horizont, dass es regelrecht dämmrig wurde.
Wenn er morgens von der Arbeit kam, die erneut so wenig Fortschritt gebracht hatte, dachte Wegener an Clausewitz. Was hätte der Alte ihm geraten? Sie brauchten neue Reserven, um sie in den Kampf zu werfen. Aber woher nehmen? Die ganze Sache schien stark vorbeizuglücken.
Seit der Laus wuchsen alle Schwierigkeiten in täglich beängstigenderer Weise. Seit der Laus.
Wenn Wegener träumte, träumte er von Reisen in den Süden, ans Mittelmeer, von friedlicheren Küsten. Wenn nur die Verpflichtung zum Heldentum einmal endete.
Sie erbeuteten einen Hermelin mit weißem Fell und schwarzem Schwanzende. Am Fuß des Gletschers entkam ihnen im letzten Moment ein schöner Polarfuchs, fast sah das Tier, als es sich zwischen dem Geröll noch einmal nach ihnen umsah, enttäuscht aus, nicht erwischt worden zu sein.
Am oberen Ende des Gletschers, wo nun die Motorschlitten standen und darauf warteten, dass Kraus sie endlich in Betrieb nahm, tauchte eines Tages ein Eisbär auf. Die kleinen Ohren, die riesige Tatze, die er ihnen entgegenstreckte, zum Gruß oder zur Abwehr. Der Buckel hinter seinen Schultern. Wegener war an diesem Morgen mit Loewe und Georgi unterwegs, sie hatten nur Gepäck dabei, Petroleum im Wesentlichen, aber kein Gewehr. Vielleicht hatte der Bär es auf ihr Pferd abgesehen. Loewe war eben von einem zweiwöchigen Transport zum Karoline-Depot zurückgekehrt, das er zusammen mit einigen Grönländern bei zweihundert Kilometern Küstenabstand angelegt hatte, auf halbem Wege nach Eismitte. Mit Ausnahme der beiden Kameraden und dem Pferd war der Bär das erste Lebewesen, das er seitdem zu Gesicht bekam. Und während der Anblick Wegener mehr als Respekt einflößte, schien Loewe die Begegnung als vollkommen selbstverständlich zu nehmen.
Hatte er im Firn die Sinne verloren? Loewe stellte sich schützend vor das Pferd und machte sogar einige Schritte auf den Eisbären zu.
Der Bär begann zu fauchen.
Loewe fauchte ebenfalls.
Der Bär hob erneut die Pranke, und auch das machte Loewe ihm nach. Wo war seine Angst geblieben? Im Eis? Wusste er nicht, was er da
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