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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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solange es ihm irgend möglich sei. Es war wohl als Versprechen gemeint, auch wenn es so, wie er es sagte, eher nach einer Drohung klang.

    In diesen Tagen lief Wegener gerne allein den Uferweg entlang, er konnte kaum erwarten, endlich in See zu stechen. Die Zeit des Festlands war vorbei. Manchmal, wenn es ihn zum Leuchtturm zog, kam ihm alles vor wie ein Traum, von dem man nicht wusste, ob er gut ausging. Wenn er zurück an den Hafen kam, lag groß und stumm die Danmark vor Anker. Ein schlafender Wachhund, der Sorge tragen würde, dass ihnen kein Unheil widerfuhr.
     
    Sie legten unter nicht enden wollendem Jubel der Zuschauer ab. Wegener sah seine Mutter und die beiden mitgereisten Geschwister klein am Quai stehen. Ob man auch so jubeln würde, wenn sie zurückkamen?

Die Klimate der geologischen Vorzeit
    Alfred Wegener war froh, kein Walfänger zu sein. Er kauerte auf einem Stapel Taue, den Blick starr auf die kaum erkennbare Horizontlinie gerichtet. Sie war das Einzige auf diesem elenden Kahn, das einigermaßen ruhig blieb. Es tat gut, sich mit den Augen daran festzuhalten.
    Von hier, aus dem Zentrum des Schaukelns, ließ sich nicht entscheiden, was stärker schwankte, sein eigener Bauch oder der Bauch des Schiffes. Direkt nach der Ausfahrt, als sie vom Deck hinüber zu den Schaluppen der Walfänger geschaut hatten, hatte Koch ihm zu erklären versucht, wie ein Schiff sich in den Wellen verhielt: »Was man Seegang nennt, setzt sich aus zwei unabhängigen Bewegungen zusammen.« Mit den Händen hatte er das Stampfen und Rollen so lebhaft in die kalte Seeluft gemalt, dass Wegener zum ersten Mal etwas wie Seekrankheit befiel. Dieses seltsame Walzen von tief unten hatte es auf den Spreekähnen nicht gegeben. Es fühlte sich an, als rumorte die ganze Welt.
    Inzwischen konnte er in jeder Einzelheit nachempfinden, was Koch ihm hatte anschaulich machen wollen. Nur die Beschränkung auf das Stampfen und Rollen schien Wegener falsch. Er hätte das schmale Wörterbuch der Nautik leicht um ein Dutzend weiterer Bewegungen ergänzen
können: erstens das trunkene Schlingern zwischen zwei Wogen, dann das ruckhafte Schütteln auf einem Wellenkamm, als käme ein nasser Hund zurück an Land, ferner das verzögerte Nicken des ganzen Schiffes, das sich bis zu einer riesigen, formvollendeten Verbeugung steigern konnte. Es gab das leichte Ausschlagen des Hecks, verbunden mit einer sanften Neigung des Oberdecks, schließlich besaß er eine unheimliche Erinnerung ans allmähliche Aufsteigen des gesamten Schiffsrumpfs, das erst vom plötzlichen Eintauchen in die Bodenlosigkeit eines Wellentals beendet wurde. Und natürlich kannte er die jeweiligen Entsprechungen im Inneren seines Magens. Zum Glück war es bislang nur dort zum Kentern gekommen.
     
    Auf vier Stunden Wache folgten vier Stunden Freiwache. Wegener lernte schnell, dass man am besten daran tat, sich ohne weitere Verzögerung schlafen zu legen. Unterdessen bekam er seine Übelkeit in den Griff und schlief so tief wie ein auf den Meeresgrund gesunkenes Schiff. Seinem Kabinenkameraden begegnete er kaum, der eine weckte den anderen zur nächsten Schicht. Nur für Momente sahen sie sich dann in die Augen, jeder von seiner Seite der Müdigkeit, der eine schon erschöpft von der Wache, der andere noch gerädert vom zu kurzen Schlaf.
    Damit die Expeditionsmitglieder sich kennenlernten, wurden die Schichten immer neu zusammengestellt. Wenige Tage, nachdem sie ohne Feierlichkeiten den Polarkreis passiert hatten, war Wegener gemeinsam mit Mylius-Erichsen zur Hundewache eingeteilt. Benommen fuhr er auf, als Koch ihn rüttelte, und taumelte um kurz vor Mitternacht an Deck.

    Der Däne saß vorne am Bug, den ersten Kontrollgang hatte er bereits erledigt. Die Luft war merklich kühler hier. Sie waren nun langsamer unterwegs, von Zeit zu Zeit passierten sie erste Eisberge. Obwohl Wegener wusste, dass der Expeditionsleiter das Rauchen ablehnte, war er froh, sich an seiner Pfeife festhalten zu können. Er zeigte ihm die Tabakpackung, und auch Mylius-Erichsen musste lachen, als er den Danmark- Schriftzug sah: »Sie rauchen ja unser Schiff!«
    Eine Weile lang schwiegen sie. Wegener drehte sich zur Reling, stützte die Ellenbogen auf und schloss die Augen. Er wusste selbst, dass das auf Wache verboten war. Tatsächlich aber sah er alles unverändert: das schwarze Wasser vor ihnen und darüber den schwarz verhangenen Himmel. Nur der Wind war mit geschlossenen Augen stärker zu spüren, kalt und

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